120Abschließend sind noch kurz einige weitere Deliktsarten zu nennen, die hier unsystematisch nebeneinandergestellt werden sollen, die aber im Laufe dieses Grundrisses an mehreren Stellen noch eine Rolle spielen werden.
Definition
Unter einem Wahndeliktversteht man ein Delikt, bei dem der Täter irrig annimmt, sein in tatsächlicher Hinsicht vollständig und richtig erkanntes Verhalten würde gegen eine in Wirklichkeit nicht existierende Verbotsnorm verstoßen. Das Wahndelikt, welches oft vom (in der Regel strafbaren) untauglichen Versuch abzugrenzen ist 50, ist nach deutschem Recht straflos.
Bsp.:Der Täter begeht einen Ehebruch in der Annahme, es handle sich dabei um ein strafbares Verhalten.
Definition
Unter einem Distanzdeliktversteht man ein Delikt, bei dem die strafrechtlich relevante Handlung und der dadurch bewirkte Erfolg notwendigerweise räumlich auseinanderfallen.
Bsp.:Bei der Verbreitung pornographischer Darbietungen durch den Rundfunk, § 184 Abs. 2 StGB, fallen Handlungsort (z. B. dort, wo der Täter eine betreffende Darstellung aussendet) und der Ort, an dem der Empfänger die entsprechende Darstellung wahrnimmt, notwendigerweise auseinander. – Die Deliktsgruppe bedarf insbesondere dann einer besonderen Betrachtung, wenn der Erfolg auf einem anderen Staatsgebiet eintritt (vgl. hierzu § 9 StGB).
Definition
Unter einem Unternehmensdeliktist ein Delikt zu verstehen, welches aufgrund seiner tatbestandlichen Fassung („wer es unternimmt […]“) sowohl den Versuch als auch die Vollendung erfasst (§ 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB).
Bei diesen Delikten, wie z. B. beim Hochverrat, § 81 StGB, stellt also bereits der Versuch ein vollendetes Delikt dar. Gesetzgeberisches Motiv für die Schaffung solcher Delikte ist es, hier einerseits den Versuch überhaupt tatbestandlich zu erfassen, andererseits aber auch, die üblichen Strafmilderungsmöglichkeiten beim Versuch, § 23 Abs. 2 StGB, sowie den Rücktritt vom Versuch, § 24 StGB, auszuschließen.
Literaturhinweise
Baur , Tatbestandstypenlehre und ihre Bedeutung für die Fallbearbeitung, ZJS 2017, 529, 655 (gelungener Überblick über die Bedeutung der verschiedenen Deliktsarten in der Klausur); Petersen , Typische Subsumtionsfehler in (straf-)rechtlichen Gutachten, JURA 2002, 105 (kurze Einführung anhand von Beispielen); Rönnau , Grundwissen – Strafrecht: Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte, JuS 2010, 961 (kurzer Überblick zu den Deliktsarten); ders. , Grundwissen – Strafrecht: Objektive Bedingungen der Strafbarkeit, JuS 2011, 697 (kurze Einführung); Satzger , Die eigenhändigen Delikte, JURA 2011, 103 (verständliche Einführung mit Beispielen)
BGHSt 14, 132– Kirmes (objektive Bedingung der Strafbarkeit bei § 231 StGB); BGHSt 16, 124– Vollrausch (objektive Bedingung der Strafbarkeit bei § 323a StGB); BGHSt 16, 130– Zechschuld (objektive Bedingung der Strafbarkeit bei § 231 StGB)
Kapitel 3:Die menschliche Handlung
I.Grundlagen
121Voraussetzung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist stets ein bestimmtes menschliches Verhalten. Hieran – und nicht an den Eintritt eines bestimmten Erfolges – knüpft jeweils die strafrechtliche Bewertung an. Es kann strafrechtlich zwar eine bestimmte Handlung ohne einen Erfolg geben (z. B. beim Versuch: Der Täter schießt vorbei), nie aber einen strafrechtlich relevanten Erfolg ohne Handlung. Wenn also Menschen infolge der Verwendung gesundheitsschädlicher Produkte sterben, muss stets geprüft werden, auf welches konkrete menschliche Verhalten (dies kann sowohl ein Tun als auch ein Unterlassen sein) welcher konkreten Person (dies können, insbesondere bei der Mittäterschaft, auch mehrere konkrete Personen sein, die aber individualisiert werden müssen) der Erfolg zurückzuführen ist. Die wesentliche Funktion des Handlungsbegriffs liegt somit vorwiegend darin, deutlich zu machen, an welches konkrete menschliche Verhalten welcher Person angeknüpft wird.
Klausurtipp
Die exakte Bestimmung der Handlung ist insbesondere für den Prüfungsaufbau in einer Klausur wichtig. Hier muss jedenfalls dann, wenn mehrere Verhaltensweisen des Täters in Frage kommen, bereits im Einleitungssatz der Prüfung jedes einzelnen Tatbestandes genau festgestellt werden, durch welches Verhalten sich der Täter hinsichtlich welcher Strafvorschrift möglicherweise strafbar gemacht hat.
Formulierung
„Anton könnte sich dadurch, dass er die Tretmine in Brunos Garten vergrub und entsicherte, wegen eines Totschlags an Bruno strafbar gemacht haben“. – „Rudi könnte sich dadurch, dass er als Geschäftsführer der ‚X-AG‘ den Rückruf des Holzschutzmittels ‚Superfax‘ nicht anordnete, nachdem die ersten Schadensfälle bekannt wurden, wegen einer gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen an Hilde strafbar gemacht haben“.
122Die zweite Aufgabe des Handlungsbegriffs besteht darin, bereits an dieser Stelle die sog. „Nicht-Handlungen“auszufiltern, die strafrechtlich keine Relevanz besitzen, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass nur eindeutige Fälle, die zudem kaum juristisches „Geschick“ erfordern, über den Handlungsbegriff ausgeschieden werden.
Bsp.:Anton und Bruno laufen gemeinsam durch die Stadt. Nach einem Streit gibt Anton dem Bruno einen kräftigen Stoß, wodurch Bruno auf ein an der Straße abgestelltes Fahrrad fällt und dieses verbeult. Bei der anschließenden Flucht vor Anton stolpert Bruno und kollidiert infolgedessen mit der vierjährigen Anna, die infolge des Sturzes eine Kopfverletzung erleidet. – Bei der Frage, ob sich (auch) Bruno wegen einer Sachbeschädigung am Fahrrad, § 303 StGB, strafbar gemacht hat, ist als erstes zu prüfen, ob überhaupt eine Handlung Brunos vorlag. Erst wenn eine solche festgestellt werden kann (was hier zu verneinen ist), kann man sich mit der Frage beschäftigen, ob Bruno auch vorsätzlich handelte. Dagegen ist das Stolpern infolge der Flucht als Handlung Brunos anzusehen, da er das Weglaufen als solches willentlich steuerte. Hier fehlt es im Hinblick auf die Körperverletzung gegenüber Anna, § 223 StGB, allerdings am Vorsatz. Es kommt jedoch eine fahrlässige Körperverletzung, § 229 StGB, in Betracht.
II.Handlungsformen: Tun und Unterlassen
123Ausgangspunkt jeder Strafbarkeit ist stets ein konkretes menschliches Verhalten. Dieses wird zuweilen auch als „menschliche Handlung“ umschrieben, was jedoch zu Missverständnissen führen kann, da die Handlung vielfach auch mit einem aktiven Tun gleichgesetzt wird. Insoweit soll bereits hier festgestellt werden, dass es zwei unterschiedliche Formen menschlichen Verhaltens gibt, die beide strafrechtlich relevant werden können, nämlich (aktives) Tun und Unterlassen. 51Als gemeinsamer Oberbegriff für Tun und Unterlassen dient der Begriff des „menschlichen Verhaltens“.
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