Gegen Abend erklomm sie, wie die Nacht zuvor, einen der breiteren Tannenstämme. Sie glaubte nicht an Verfolger, doch fürchtete sie Raubtiere, die im Dunklen gierig die kargen Wälder nach Fressbarem absuchten.
Eisiger Wind peitschte ihm ins Gesicht. Seine Augen waren zusammengekniffen, der Wasserdunst hatte in seinem dichten grauen Bart Kristalle gebildet. Sein Haar war von dem langen Marsch durch den tiefen Schnee verschwitzt und klebte nun steif auf seiner Stirn. Während seine rechte Hand den Wanderstab führte, umklammerte seine Linke fest den gefilzten Umhang vor der Brust. Er wagte nicht, die bläulich gefärbten Finger zu bewegen, in denen er kein Leben mehr fühlte.
Jeder Atemzug schmerzte den alten Mann in der Brust, seine Wollkleider waren gefroren, die lederne Hose steif, in den Stiefeln sammelte sich Schnee, den er bei jedem Schritt hineinschaufelte.
Seine Gedanken waren längst von dichtem Nebel verschleiert. Die Worte, die er immerzu stammelte, gaben ihm Mut, zwangen ihn zu weiteren Schritten und erinnerten ihn an den Eid, den er vor vielen Jahren geschworen und vor wenigen Wochen erneuert hatte. Er war Ermon, ein Gesandter, Phindorch und Quarandor des Hohen Sanglors Echandus von Dagosturas. Sein Leben war in Hinblick auf die Botschaft, die er geschworen hatte zu überbringen, bedeutungslos. Zu sterben sei ihm erst gestattet, wenn er seine Nachricht überbracht hatte.
War der Wind wie Peitschenhiebe, das gefrorene Wasser in den Stiefeln wie scharfe Dolchklingen, so war die Kälte sein größter Feind. Sie umschlang ihn wie einen Freund, ließ ihn allen Kummer und Schmerz vergessen – um ihn zuletzt, sobald er sie in sein Herz ließe, in die Knie zu zwingen und über seinen ewigen Schlaf zu wachen.
Er saß bereits gebeugt, die Hand die kleine Rolle unter seinem Umhang berührend, auf die er den Wortlaut seiner Botschaft geschrieben hatte, als das Peitschen des Windes dem Heulen der verlorenen Seelen wich.
Feuer prasselte. Mit einem tiefen Atemzug sog er den Qualm in sein Inneres. Ermon wagte nicht, die Augen aufzuschlagen und den gehässigen Fratzen der Torwächter entgegenzublicken. Jener Torwächter des Horodius, die über die Seelen urteilten, die Verdorbenen als ruhelose Schatten wandeln ließen, die Seligen bis zur Ewigen Halle geleiteten, wo all die tapferen Krieger, die starken Herrscher, Sangloren und Könige und Tempelwächter, zu steinernen Statuen verwandelt standen. Selbst große Künstler und begabte Handwerker weilten unter ihnen.
Sein ganzes Leben hatte er gedient, treu ergeben, nie des Eigennutzes bedacht. Nur dieses eine Mal war er von seinem Schwur abgewichen und die Strafe des Horodius fiel nun auf ihn herab wie die Axt des Henkers.
»Die Torwächter des Horodius sind weit fort, sie wagen es nicht, über die Seele des Phindorchs Ermon zu urteilen, sie in die Ewige Halle aufzunehmen oder ruhelos wandeln zu lassen.«
Verwundert riss er die Augen auf. Keine finsteren Kreaturen fielen über ihn her.
Er lag auf dem Boden, im Kamin lechzten Flammenzungen um Holzscheite und wärmten seine Brust, die mit einem dicken Bärenfell zugedeckt war. Zu seiner anderen Seite gähnte ein Villar, ein wildes Tier aus dem Bergreich, kaum zu zähmen, scheu und dennoch begehrt. Villare waren dem Hund sehr ähnlich, doch ihr Fell war dichter. Sie lebten meist als Einzelgänger in den hohen Bergen, waren ausgezeichnete Jäger, die alles Leben rissen, welches dem vielen Schnee trotzen konnte. Nur wenige dieser Tiere ließen sich domestizieren. Das Tier schnüffelte kurz an seinem Kopf, als er sich bewegte, und wandte sich, ohne weiteres Interesse an ihm zu zeigen, wieder ab.
Der Duft von warmem gewürztem Wein und Rauch lag in der kleinen Hütte. Licht gaben nur das Kaminfeuer und das Aufflammen der Glut einer Pfeife im Dunklen.
»Du hattest wahrlich geglaubt, Horodius der Ewige habe deine Seele aufsteigen lassen, wenn ich nicht gänzlich irre?« Die Glut der Pfeife leuchtete erneut auf und gab das bärtige Gesicht eines stämmigen Mannes zu erkennen, in dicke Filzkleidung mit einem Pelzüberwurf gehüllt. »Timerus der Mächtige selbst muss sich deiner angenommen haben, als er Kurus nach Osten zu den Hängen getrieben hat, um dort zu jagen.«
Der Villar hob kurz den Kopf, als er seinen Namen hörte, brummte, als kein Befehl des Herrn folgte, und bettete sein Haupt wieder auf seine Tatzen.
»Wahrlich, dass du mich gefunden hast! Den Göttern sei Dank.«
»Was treibt dich, dass du dieser Tage den Osthang erklimmst? Das ewige Weiß, der Schnee, der selbst zur warmen Jahreszeit nicht schmilzt, ist des Pilgers größter Feind.« Der Bärtige nahm einen Zug aus der Pfeife. »Warum bist du nicht der Straße gefolgt, hast bei den kleinen Gaststätten genächtigt, auf dass deine Reise sicher ist?«
»Mein Weg führt mich zum Niederen Sanglor Ogondorus dem Weißen«, murmelte Ermon mit schwacher Stimme.
»Doch nicht direkt, wie mir scheint.« Der Bärtige legte seine Pfeife auf den kleinen Tisch neben sich, hob einen Kessel hoch, der darauf stand, und befestigte den Henkel an einem Haken über der Feuerstelle.
»Ich wollte den Rat eines Freundes einholen, ehe ich in der Feste des Sanglors vorspreche.«
»Die Kunde, die du zu überbringen hast, muss von großer Bedeutung sein, dass du es wagst, den Schwur zu brechen.« Der Bärtige warf einen Blick auf die Rolle, die auf dem Tisch stand, seufzte und setzte sich wieder auf seinen knarzenden Holzschemel.
»Hast du ihr meine Worte entnommen? So weißt du von meinen Nöten.«
»Es stand mir nicht zu, sie zu lesen – nicht solange dein Herz noch schlägt, die Brust sich hebt und senkt!«
Der Quarandor seufzte schwermütig. »Du weißt, mein Herr und Manarch war kein Freund des Königs, doch er war der Krone ein treuer Diener und gehorchte dem Machtwort.« Er hielt inne, suchte mit den Augen die dunkle Holzdecke ab, als hoffte er, dort die rechten Worte zu finden.
»Du sprichst, als stünde der König nicht mehr«, sprach der Bärtige leise, ahnend, welch Botschaft der Quarandor überbrachte.
»Kein Schwert wird er noch heben, doch treu seine eigene Klinge in der Ewigen Halle halten.«
Es folgte ein Schweigen, während sie dem Knistern des brennenden Holzes lauschten und des Königs Tod gedachten.
»Mein Herr und Manarch schickte mich, noch ehe der Rat der Hohen Sangloren zusammen mit den Niederen Sangloren und den Adelsherren des Ostens in der Königsstätte zusammentreffen wird. Mein Herr bittet um das Gespräch mit Ogondorus dem Weißen.«
»Soweit mir bekannt, ist kein Niederer Sanglor an der Königswahl beteiligt. Warum sollten auch jene zur Königsstätte aufbrechen?«
»Der Rat der Hohen Sangloren wählt zumeist einen bereits bestimmten Nachfolger, den Erben des Vaters, um ihn als den neuen Herrscher zu legitimieren. Doch dieser Erbe nun, ein junger Knabe, ist zu viele Winter vom Mannesalter entfernt. Seine Mutter, Königin Sarina von Kairaden, hält noch die Munt über ihren Sohn. Doch sie ist verhasst beim Volk, man wird verlangen, dass sie heiratet. Einen Mann, welcher der Krone würdig ist! Verweigert die Königin eine erneute Eheschließung, damit ihr Sohn eines Tages das Erbe des Vaters antreten kann, wird er gewiss einem … Unfall … zum Opfer fallen.«
»Könige kommen und gehen.« Der Bärtige zuckte mit den Schultern, während er seine Pfeife ausklopfte, säuberte und mit frischem Tabak stopfte. »Es hat stets der Rat der Hohen Sangloren geherrscht. Er wird einen neuen mächtigen Mann zum König wählen, so verlangt es die Tradition.«
»Dir, mein Freund, mögen die Gehässigkeiten und Kämpfe um die Thronfolge fremd sein. Hier in den Bergen, wo einzig die Kälte des Mannes Feind ist. Sangloren, Manarchen, Krieger, Vanarchen, Söhne reicher Händler und selbst Künstler, Gelehrte und Phindorchen werden zur Königsfeste kommen, um die Hand der Königsmutter zu erbitten, während der hohe Adel eigene Pläne und Intrigen schmiedet, allen voraus Prinz Vindigor von Tallân, der Neffe des verstorbenen Königs. Unser Reich wird in Krieg verfallen! Die Quaranenreiche im Süden und Westen werden ihre alten Bündnisse und damit den Frieden brechen, sie werden ihre eigenen Grenzen stärken wollen, wegen eines Paktes mit dem neuen Königsgeschlecht. Man stelle sich vor, Bargodon von Milang würde seine Schätze nicht selbst verwalten, sondern dem neuen König – oder dessen Feind – übertragen! Das Reich Milang würde nicht länger den Frieden und den Handel sichern, es würde einen Keil zwischen alle Adelsfamilien treiben.«
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