»Ich bin mir sicher, Ihr versucht Eure Trauer hinter Spott zu verbergen.« Ermon zuckte mit den Schultern und erinnerte den Sanglor an den Schwur, den er dem Königshaus geleistet hatte. Spott über den König oder dessen Familie wurde mit dem Tod bestraft, davon waren selbst hohe Adelsangehörige nicht ausgeschlossen.
»Ah, gewiss. Doch um mir diese … traurige Kunde zu überbringen, seid Ihr nicht über den Pass zu mir gekommen. Ein gefährlicher Weg zu dieser schweren Zeit.«
»Schwere Zeiten werden uns bevorstehen, wenn wir nicht handeln.«
»Mich erfreut, Ihr kommt zum Punkt.« Der Sanglor schnippte mit den Fingern und ließ sich von einem Bergmann einen Kelch heißen gewürzten Weines bringen. »Handeln sagt Ihr? Wir betreiben schon lange keinen Handel mehr mit den anderen Adelsfamilien. Schenkt doch auch meinen Gästen ein!«, fuhr er mit gespielter Verärgerung den Bergmann an.
Der Phindorch ignorierte die bewusste Fehldeutung seiner Worte. »Ein Kampf um die Thronfolge wird ausbrechen und verheerend für alle Quaranenreiche sein«, antwortete Phindorch Ermon, nachdem er an dem übelriechenden, dampfenden Wein genippt hatte.
»Gewiss, doch mein Reich ist davon ausgeschlossen.« Grinsend lehnte sich der Sanglor zurück und trank zufrieden aus seinem Kelch. »Kein Hauptmann ist töricht genug, seine Soldaten den steilen Weg heraufzuschicken. Meine Höhlen sind gut geschützt, die Feste uneinnehmbar.«
»Eure Feste hat sich bereits besserer Tage erfreut!«, stieß der Quarandor wütend hervor. »Eure Gänge sind verlassen, die Feuer brennen nur halb so hoch wie einst zu prächtigen Zeiten, als hier ständig Gäste geladen waren. Nun tummeln sich nur getreue Diener und Schattentänzer in diesem Saal! Nicht einmal die Bürger kriechen aus ihren Löchern hervor, um an den Empfängen teilzunehmen. Wo einst stolze Soldaten Wache hielten, verstaubt selbst der Dreck der letzten Ratten, die sich – klug, wie sie sind – woandershin zurückgezogen haben. Wo ist Sanglor Ogondorus der Weiße nur geblieben, von dem alle dachten, er trüge den Namen ob seiner Weisheit! Der Schnee gab Euch diesen Namen und der Schnee wird auch Euer Grab sein, wenn Ihr nicht erneut zum Leben erwacht!«
Es kehrte Stille ein, nachdem der Quarandor zu Ende gesprochen hatte. Wut hatte ihn übermannt, ihm die Vernunft ausgetrieben und ihn Worte sagen lassen, die man vor einem Sanglor niemals aussprechen durfte.
Ogondorus sah finster von seinem Thron zu seinen Gästen herab. Dann hob er den Blick und sah sich in dem Saal um. Tatsächlich war früher diese Halle mit Gästen, Gesang und dem Duft feinster Speisen gefüllt gewesen. In den Kaminen hatten Feuer gebrannt, die bis weit hinauf zu den obersten Säulenzeichnungen gereicht hatten, Dienerinnen der Liebe hatten zu den Liedern getanzt und edler Wein war aus den Fässern in die Krüge geflossen. Ogondorus der Weiße war ein Name, den man mit Stolz und Ehrfurcht ausgesprochen hatte.
»Warum seid Ihr gekommen, Phindorch Ermon, Quarandor des Hohen Sanglors von Dagosturas?«
»Mich erfreut, Ihr kommt zum Punkt!«
»Ich bin von Neugierde ergriffen, was vermag für den Hohen Sanglor von derartiger Dringlichkeit zu sein, dass er seinen getreuesten Diener diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen lässt, dass jener, ein Phindorch und Quarandor, gar die Hand opfert?« Sanglor Ogondorus lehnte sich in seinem Thron zurück und ließ sich von einem seiner Diener erneut von dem dampfenden Gebräu nachschenken.
»Ein Krieg, wie ich fürchte.« Phindorch Ermon seufzte und wankte, doch stürzte er nicht, sondern wurde von dunklen Schatten aufgefangen, ein Nebel aus schwarzem Qualm formte sich zu einem Stuhl, der Rücken- und Armlehnen in sich barg. Der Nordmann öffnete fassungslos den Mund, doch für seinen Freund schien die Gegenwart der Magie an diesem Ort eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, dass er keine Regung zeigte, als er sich zurücklehnte.
»Zu keinem Tag waren die Reiche frei von Krieg und Leid! Was kümmert mich der Belang dieser machtgierigen Adelsfamilien?«
»Keine Kämpfe unter Rivalen!«, rief der Phindorch mit bitterer Verärgerung. »Man berichtet von einem Heer aus dem Süden, jenseits des Salzigen Sees.«
»Ein Heer der Barbaren?« Der Sanglor lachte laut. »Nie würden sich die Völker des Südens einen!«
»Gewiss nicht zu alter Zeit, doch spricht man von einer Gestalt, die die Ragonen einen und anführen kann. Selbst die Terostoren schließen sich diesem Anführer an, anstatt das Heer aus Räubern zu vernichten. Schon bald werden alle Ländereien des Südens geeint sein, unter der Führung einer einzigen Gestalt, die weder einer Schöpfung Ursprung nahm noch den Hauch des Todes fürchte – so erzählt man sich. Und unser Reich, ein Reich des Königs, ist zerfallen. Nun, da ein unfähiger Balg das Erbe von des Königs aufgestiegener Seele antritt, werden alle Familien ihre Söhne nach Norden zur Königsstätte schicken, um den Jungen zu töten und die Mutter, die Witwe, zu ehelichen.« Die Worte des Phindorchs verhallten in den endlosen Weiten der finsteren Halle.
»Was erhofft sich Euer Herr und Manarch, Sanglor Echandus von Dagosturas, von mir? Erbittet er meine Zustimmung, meinen Segen, die Witwe zu ehelichen?«
»Mein Herr und Manarch strebt nicht nach dem Thron des Königs, er sorgt sich lediglich um sein Volk und will die Krone nicht auf dem Haupte eines Mannes wissen, der schwach ist oder von einer Frau kontrolliert wird.«
»Sollte«, der Sanglor des Weißen Quaranenreiches räusperte sich, »sollte dieses Degenkind bei einem der vielen Übungskämpfe …«, der Beleibte suchte nach Worten. »So viele Seelen sind bereits durch missglückte Übungskämpfe zum Aufsteigen … ermutigt worden. Wäre es so abwegig, wenn diesem Balg selbiges Schicksal zukäme? Und wenn die Mutter, eine trauernde Witwe, geschwächt durch ihren Kummer, an einer Krankheit leide, noch bevor ein Mann sie zu seinem Weibe machen konnte … Wer wird dann dieses bürdevolle Amt annehmen? Ist es nicht sein Neffe?«
»Prinz Vindigor von Tallân, Weißer Sanglor«, stimmte der Phindorch zu.
»Vindigor wird nicht wagen, dieses Amt anzunehmen!«, polterte der Sanglor wütend. »Seine Familie ist stark, doch ohne Reichtum – und daher auch ohne Macht.«
»Nicht, wenn er Sanglor über ein Quaranenreich wird, welches für seinen Reichtum ebenso bekannt ist wie die einzige Erbin selbigen Quaranenreiches für ihre Schönheit.«
»Ihr sprecht von Ilorene von Milang.« Jeglicher Spott, aller Hohn war aus der Stimme des Beleibten gewichen, während seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten.
»Prinz Vindigor wird mit all seinen Kriegern zur Hauptstadt des Quaranenreiches der Milang reisen und dem Hohen Sanglor Bargodon von Milang ein Angebot unterbreiten, welches dieser nicht ausschlagen kann – trotz eines angeblichen Versprechens gegenüber dem Hêmen-Adel, dass Timus von Hêmen Ilorene ehelichen wird.«
Erneut verfielen die beiden Männer in Schweigen, während alle Anwesenden angespannt nachzudenken schienen.
»Euer Herr und Manarch erhofft sich von mir meine Unterstützung, sollte er Vindigor angreifen?«, fragte der Sanglor schließlich.
»Keinesfalls! Ein Angriff auf die Königsfamilie ist Hochverrat!« Der Phindorch bedachte seine Worte genau, ehe er fortfuhr. »Der Hohe Sanglor Echandus von Dagosturas erbittet, dass Ihr die Königswitwe zu Eurem Weib nehmt und somit die Krone beerbt.«
»Warum sollte er dies wünschen?«
»Ihr steht mit keiner der Adelsfamilien noch im Bunde, zu lange lebt Ihr bereits zurückgezogen in den Bergen. Außerdem seid Ihr erfahren und wisst ein Heer anzuführen.«
»Prinz Vindigor erweist sich, wie man sich erzählt, ebenso als tüchtiger Heermeister.«
»Prinz Vindigor ist ein Stratege zu Felde, doch ist er durchfressen von Machtgier und Misstrauen. Er wird alle Söhne der Sangloren töten lassen, um die Reiche zu schwächen und später an seine Familie zu binden, durch Schenkungen oder Eheschließungen. Es wird zu einem Krieg kommen, inmitten des Königreichs, während von jenseits des Salzigen Sees der wahre Feind droht. Doch Ihr, Weißer Sanglor, seid fähig, die Gemüter der verfeindeten Familien zu besänftigen, ein Heer zu rüsten und gegen den Süden zu Felde zu ziehen.«
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