Gemeinsam schritten sie den kurzen Weg ins Zentrum des Bergdorfes hinauf. Jeder Dorfbewohner warf ihr misstrauische Blicke zu. Alle begannen zu tuscheln, einige verschwanden in ihren Hütten, andere hüllten ihre Häupter in Tücher oder verschränkten gar die Arme vor der Brust, um sie wütend anzustarren.
»Sie geben mir die Schuld für das Unwetter«, sprach das Mädchen, ohne darauf zu achten, ob es gehört werden konnte.
»Verzeih ihnen«, antwortete der Priester mit bedacht leiser Stimme. »Hier in den Bergen glaubt man, den Göttern näher zu sein als in den tiefgelegenen Städten. Umso härter trifft uns die Strafe eines Gottes, wenn wir dessen Groll auf uns gezogen haben.«
Sie erreichten einen runden Platz auf einer Anhöhe, in dessen Mitte ein großer steinerner Altar stand. Über dem Altar war ein Gestell aus Holz aufgebaut, auf das Tandûn von Amosthal gebettet war. Langsam traten sie näher und blieben wenige Schritte von dem Leichnam entfernt stehen. Marbana hatte noch nie zuvor einer Opferung beigewohnt, nun trat sie verlegen von einem Fuß auf den anderen. Eine Mauer hatte sich wie eine Blockade in ihrem Inneren aufgebaut, die weder Schmerz noch Trauer zuließ. Mit emotionslosem, leerem Blick starrte sie ihren einstigen Lehrmeister an, der über noch so viel Wissen verfügt hatte, das er nun nicht mehr seiner Schülerin weitergeben konnte.
Ihre ganze Familie war ihr genommen worden, doch die Leere der Einsamkeit war von Tandûn gefüllt gewesen, der ihr ein Vater gewesen war. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter erinnern, nicht an Geschwister und auch nicht an einen leiblichen Vater. Einzig ihr Lehrmeister hatte sie großgezogen, solange sie zurückdenken konnte. Er hatte sie alles gelehrt, all ihre Fähigkeiten beherrschte sie dank ihm. Bei jedem Schmerz war er ihr beigestanden. Zwar hatte sie sich oft ein tröstendes Wort gewünscht, vielleicht auch eine zärtliche Geste, eine Umarmung, die sie nie empfangen hatte, aber er war treu an ihrer Seite geblieben und sie hatte stets Trost in seiner Gegenwart gefunden. Doch nun war auch er ihr genommen. Und nichts schien diese Leere jemals wieder füllen zu können.
Der Priester berührte ihren Arm und riss das Mädchen aus seinen Gedanken. Marbana sah auf und erkannte den Bärtigen, der sie im strömenden Regen gefunden und aufgenommen hatte. Neben ihm ging die Frau einher, die sie gepflegt hatte. Ihnen folgte der junge Bursche, der vom Bärtigen fortgeschickt worden war, um Hilfe zu holen. Die drei kamen näher, verneigten sich vor dem Altar, legten ihre Hand aufs Herz und sprachen ein leises Gebet. Dann stellten sie sich neben den Priester und schwiegen mit gesenkten Häuptern.
Varen berührte das Mädchen erneut an der Hand und reichte ihm einen silbernen Dolch. Es bedurfte keiner weiteren Worte, um zu wissen, was zu tun war. Marbana trat langsam auf den Altar zu, wo ihr Lehrmeister mit geschlossenen Augen auf dem Gestell lag, unter dem trockenes Heu gesammelt war.
Der Erzählung nach musste der Körper eines jeden Toten geopfert werden, auf dass die Seele von den reglosen Gebeinen getrennt werde, um zu Horodius dem Ewigen aufsteigen zu können. Noch nie zuvor hatte Marbana über alte Riten und den Glauben im Allgemeinen nachgedacht. Ihr Lehrmeister hatte sie gelehrt, ihre Vernunft zu gebrauchen, doch hatte auch er die Macht oder gar die Götter selbst nie infrage gestellt. Nun hielt sie den silbernen Dolch in Händen und blickte zu jenem Mann hinab, der ihr ein Vater gewesen war – und es immer bleiben würde. Sie beugte sich vor, küsste seine blasse, kalte Stirn, ehe sie den Dolch an seiner Brust ansetzte und mit zusammengepressten Zähnen die Klinge in das Herz bohrte. Sogleich brach sie in Tränen aus und sackte auf die Knie. Ein lautloser Schrei entglitt ihrer Kehle.
Der Priester trat an das Mädchen heran und überreichte ihm eine Fackel. Noch war die Opferung nicht vollzogen, der Körper musste verbrannt werden, damit die Seele mit dem Rauch auch sicher aufsteigen konnte. Mit schmerzendem Herzen entzündete das Mädchen das Heu unter dem Gestell und legte anschließend die Fackel auf die Kleidung des alten Mannes, die mit geweihter Flüssigkeit getränkt war, auf dass der Körper auch vollständig in Feuer aufging.
Sie saß in der Hütte auf einem Bett, die Beine angezogen, und starrte bei der kleinen Luke hinaus ins Freie. Es war später Nachmittag, die Sonne war bereits hinter der Bergspitze verschwunden. Die Tür wurde aufgeschoben und der Bärtige trat zusammen mit seiner Frau und dem Priester ein. Sie warfen dem Mädchen einen besorgten Blick zu, dann deuteten sie ihm stumm, zum Tisch zu kommen, wo sie sich eben niederließen.
»Du sagtest, nicht zu wissen, weshalb ihr hergekommen wart?«, fragte der Priester mit auffordernder Stimme, als das Mädchen sich zu ihnen auf die Eckbank gesellte.
»Mein Lehrmeister war auf der Suche.«
»Auf der Suche wonach?« Jegliches Mitgefühl oder etwa Besorgnis war aus den Augen des Bärtigen gewichen, der nun die Fremde mit strengem Blick musterte.
Als das Mädchen nicht antwortete, legte der Priester ein Bündel auf den Tisch. »Dies hattest du bei dir.«
Marbana wusste nur zu gut, was darin war. Es war die Schriftensammlung, erst jetzt wurde ihr das Abhandensein bewusst. Hastig griff sie danach und drückte die Sammlung an ihre Brust, als würde das Bündel eine Wärme ausstrahlen, welche die Kälte aus dem Körper trieb, die Muskeln lockerte und alles Misstrauen weichen ließ. Das Mädchen beugte sich vor und musterte die drei Dorfbewohner abschätzend.
»Mein Lehrmeister sprach von Männern, die geflohen sind. Einzelnen Männern, die als Fremde an den entlegensten Orten leben.«
Der Bärtige wechselte einen schnellen Blick mit dem Priester, dann starrten sie wieder das Mädchen an. »Was wollte dein Meister von dem Narren?«
»Dem Narren?«, fragte Marbana überrascht. Tandûn hatte nie einen Namen genannt.
»Der Narr ist vor einigen Jahren zur kalten Zeit in unser Dorf gekommen. Er verbrachte sieben Tage und Nächte am geweihten Altarsplatz, ehe er das erste Wort an unseren Dorfältesten richtete. Er bat um einen Platz in einer Scheune, dafür werde er jagen und seinen Dienst an der Dorfgemeinde leisten. An jenem Tag, an dem wir dich gefunden haben, ist der Narr jedoch verschwunden.«
Marbana sah einen nach dem anderen an. Sie wusste, dass ihr Lehrmeister zweifellos den Narren gesucht haben musste, doch konnte sie sich nicht erklären, weshalb. Hastig breitete sie das Bündel, das von mehreren Stofffetzen umgeben war, auf dem Tisch aus. Im Inneren lagen unzählige kleine Briefe, mit Namen versehen, teils noch versiegelt. Während die anderen ihr gespannt zusahen, überflog sie all die Adressaten, in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Narren zu finden. Umso mehr überraschte es sie, als sie ein versiegeltes Schriftstück entdeckte, das ihren Namen trug. Zwar hatte sie all die Zeit über dieses Bündel bei sich getragen, Tandûn von Amosthal hatte ihr jedoch stets verboten, die Briefe durchzusehen oder gar zu lesen. Sogleich erbrach sie das Wachssiegel, das den Stempel ihres Lehrmeisters trug, und begann zu lesen.
Dir, Marbana, tüchtigste Schülerin und treueste Gefährtin.
Wenn Du diesen Brief liest, habe ich bereits versagt.
Doch in Dir liegt die Kraft, meinen Weg fortzuschreiten, meine Aufgaben zu vollenden.
Verzeihe mir, dass ich Dich nicht eingeweiht habe, Dir nicht den wahren Grund unserer Reise genannt hatte. Ich bin geplagt von Zweifel, ob der Weg, den ich eingeschlagen habe, auch der richtige ist. Mit meiner Suche nach den Abtrünnigen begehe ich Hochverrat am Königshaus! Sollte man uns gefangen nehmen, so will ich nicht, dass Du von meinem Vorhaben gewusst hast, sondern vielmehr, dass dieser Brief Dich womöglich entlasten könnte. Doch nun, da ich Dich nicht mehr führen kann, musst Du diesen Weg alleine fortsetzen. Wir brachen eben aus Tarangien auf, wo ich erfahren habe, dass jener, den wir suchen, in einem entlegenen Dorf in den Bergen zurückgezogen lebt. Er hat sich von seinem Weg als Krieger abgewandt, doch niemand kann sich seinem Schicksal entziehen, selbst ein Schützling der Göttin Helemâs nicht. Er hat geschworen, dem Volk zu dienen. Diesem Schwur muss er wieder Folge leisten!
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