Mit mürrischem Blick starrte er aus der kleinen Fensternische, während der Regen schier unermüdlich auf das Dach prasselte. Bereits drei volle Tage waren vergangen, in denen das vom Himmel kommende Nass nicht aufgehört hatte, die Böden aufzuweichen. Das Dorf schien ausgestorben zu sein, kaum eine Seele verließ das trockene Heim, außer um auf den verschlammten Wegen watend sich Brennholz zu besorgen oder Nahrung beim Priester zu erbetteln.
Er selbst hatte einzig für die Gebete am geweihten Altar, wo auch die Opfergaben dargeboten wurden, seine Hütte verlassen – oder um sich seiner Exkremente zu entledigen. Etwas schien an ihm zu nagen. Zweifellos war dieses unnatürliche Wetter eine Strafe Talimas’ des Weinenden, des Herrn über die Winde, Regenfälle, Wolken und den Sonnenschein. Vermutlich belegte er das gesamte Dorf mit diesem Fluch, um einzig ihn, den Narren, wie sie ihn hier in den Bergen seit jeher nannten, abzustrafen.
Er verstand sich als Sohn der Helemâs, der Wächterin der Heimlosen und Tributin der Armen. Sie hatte auch über ihn gewacht, der weder heimlos noch verarmt war, dafür sollte er als ein Mitglied der Bruderschaft sich jener annehmen, die des Schutzes bedurften. Dieser Aufgabe hatte er sich bereits vor geraumer Zeit abgewendet, hatte seine Brüder verlassen und war in die Berge gegangen, wo er sich bei den Bewohnern eines entlegenen Dorfes seinen Frieden erhoffte. Zu viele Menschen hatten ihn einst angefleht, für zu viele Menschen hatte er vergebens Recht gesprochen. Doch weder die Sangloren, die hohen Adelsherren, noch der König, in diesem Land oder in den benachbarten Ländereien, waren willens, sich der Armut anzunehmen oder gar einen Bürger von Rang wegen eines Vergehens an Besitzlosen anzuklagen, während jene, denen er seinen Gehorsam geschworen hatte, selbst an dem Kampf um Macht und Reichtum beteiligt waren.
Es war gewiss! Nun wird über ihn gerichtet werden, sein Wunsch nach Ruhe, seine Feigheit gesühnt. Und sollte er nicht aus diesem Dorf fliehen, so würde seine Anwesenheit hier all die unschuldigen Seelen verdammen, den Zorn der Götter erwecken und Talimas würde mit einem Unwetter all die Hütten, Höfe und selbst den geweihten Altar zerstören und die Fluten würden ihre Überreste in das Tal hinabschwemmen.
Lautes Poltern riss ihn aus den Gedanken. Ein verzweifeltes Stöhnen entwich seiner Kehle, als er sich der Tür zuwandte.
»Narr, mach auf!«, rief die junge Stimme des Sohnes eines jener Bauern, dessen Hof am oberen Ende des weitläufigen Dorfes lag. Der Narr sah sich verunsichert um, griff nach dem kleinen Dolch, der stets neben der Tür an einem Riemen hing, und öffnete den Eingang einen Spalt. Sogleich wurde er von dem kräftigen Jungen beiseitegeschoben, der eintrat und seinen Mantel leise fluchend ausschüttelte. »Wenn doch bloß diese Kälte nicht wäre!«
Verwirrt schloss der Narr wieder die Tür und musterte seinen Gast. Er mochte den Jungen, zwar hatten sie nicht viel miteinander zu tun, doch war jener es gewesen, der ihn bei seiner Ankunft vor all den Jahren aufgenommen hatte, ihm Essen, Trinken und einen Schlafplatz im Stall angeboten hatte.
»Vater schickt mich. Zwei Fremde wurden gefunden. Sie waren auf dem Weg ins Dorf.«
»Dem Weg … auf dem Weg herauf?«, grummelte der Narr nachdenklich. Zu dieser Jahreszeit wagten nur besonders kühne Fremde den Weg zum Dorf hinauf. Es war gewiss! Sie schickten nach ihm. Sie, die Wächter des Tempels des Timerus, des höchsten aller Götter. Oder waren es die Schergen des Königs? Auch vor ihnen war er in die Berge geflohen. Oder gar Krieger der Bruderschaft, die er verlassen hatte?
»Zwei Fremde?«, murmelte der Narr leise.
»Ja, sie sind vom Unwetter überrascht worden. Vater versucht mit einigen Männern, ihnen zu helfen.«
Sie waren seinetwegen gekommen! Er brachte die Dorfbewohner nur weiter in Gefahr, wenn er bliebe. Es gab nur einen Weg, er musste fliehen!
»Gehen … nicht verweilen in meinem Haus!«, keuchte er und packte seinen Gast an den Schultern. »Geh … hilf … hilf den anderen!«
»Wovor fürchtest du dich? Sind sie deinetwegen gekommen?« Verunsichert trat Jophur zurück und betrachtete den Narren mit besorgtem Blick.
»Geh!« Der Narr wollte nicht weitersprechen, auch wusste er nicht, was er hätte sagen können, er wusste selbst nicht so recht, wie er mit all dem umgehen sollte. Kaum war der Junge hinausgestürzt, raffte er schnell sein wenig Hab und Gut zusammen, packte den Dolch, seine Pfeife, etwas Tabak, eine kleine Schriftensammlung, einen Beutel mit Kupferlingen und wickelte einige der Kleidungsfetzen in der einzigen Decke, die er besaß, ein. Wehmütig sah er sich in der Hütte um, die er vor Jahren selbst erbaut hatte. Zwar war er stets der Fremde geblieben, doch war dies in all der Zeit seine Heimat geworden.
Er wollte bereits gehen, nur schnell diesen Ort verlassen, als seine Beine ihm nicht länger gehorchen wollten. Er blieb stehen, starr. Mit pochendem Herzen wandte er sich um und blickte die Truhe an, die unberührt, von einer Staubschicht überzogen, in der Ecke stand. Eine kleine geschnitzte Holzfigur, ein Bildnis der Göttin Helemâs, stand darauf.
Fluchend näherte er sich der Truhe. Er hatte sich geschworen, sie nicht mehr zu öffnen, mit einem Schloss das zu versiegeln, was darin lag, doch kein Schmiedemeister war die steilen Wege zu ihm heraufgekommen und auch der ungeschickte Dorfschmied war nicht fähig gewesen, ein sicheres Schloss anzufertigen – schließlich besaßen die Dorfbewohner auch nichts, was man hätte verschließen müssen. So war die Truhe unverschlossen geblieben.
Der Narr legte hastig die kleine Holzfigur beiseite, ehe er den Deckel anhob und ins Innere der Lade blickte. Darin lagen seine alte Kleidung, ein edler Mantel aus Tierhäuten mit einem Kettenhemd darunter, gepanzerte Handschuhe, eine verstärkte Hose, Stiefel mit Stahlüberzug und sogar ein Helm. Doch nichts davon rührte er an, einzig das Schwert, das obenauf lag, von einer schlichten Scheide geschützt. Es hatte keine lange Klinge, da er meist die Waffe unter dem Mantel verborgen getragen hatte und sie nicht selten in engen, verdreckten Gassen großer Städte zum Einsatz gekommen war. Einst war der Inhalt der Truhe seine Rüstung gewesen, die unter seinesgleichen seinen Rang verriet, doch hatte er sich von diesem Weg damals, als er in die Berge gekommen war, abgewandt.
Schnell befestigte er das Schwert an seinem Gürtel und verließ ohne einen weiteren Blick die kleine Hütte, um draußen sogleich im Schlamm der aufgeweichten Pfade zu versinken.
Marbana hielt das Bündel, welches ihr Lehrmeister ihr übergeben hatte, fest gegen die Brust gedrückt. Ihre Schultern schmerzten unter der Last der Riemen, die an einem Holzgestell befestigt waren, wo all ihr Proviant, die Ausrüstung und eine zusätzliche Decke festgezurrt waren.
Es war noch zur heißen Jahreszeit gewesen, als sie und ihr Lehrmeister aufgebrochen waren. Was oder wen sie suchten, wusste das Mädchen nicht, doch sie folgte ihm stillschweigend von Stadt zu Stadt. Am vergangenen Tag waren sie in die strömenden Regenmassen gekommen, welche ihnen den steilen Pfad den Berg hinauf erschwerten. Da der Lehrmeister an seinen alten Tagen litt, trug sie von der gemeinsamen Ausrüstung, was sie zusätzlich schultern konnte. Alles andere musste zurückgelassen werden.
»Herr, Ihr seht erschöpft aus!«, rief sie ihrem Lehrmeister zu, der wenige Schritte vor ihr keuchend stehen geblieben war und nun zu seiner Schülerin zurückblickte.
»Der Regen wird nicht nachlassen, wir müssen weiter, bevor die Nacht heranbricht!« Dann wandte er sich um und stapfte weiter, auf seinen Stab gestützt.
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