Finde den Ersten dieser einstigen Krieger, den man den Narren nennt. Zeige ihm das Siegel auf diesem Brief. Er wird wissen, wer Dich schickt. Er wird wissen, wem er von mir berichten muss und welchen Dienst ich ihm abverlange.
Es erfüllt mich mit Stolz, Dich als meine Schülerin ausgebildet zu haben. Doch Du bist nicht mehr meine Schülerin. Deine Ausbildung ist seit unserer Abreise aus Bermos abgeschlossen. Nun bist Du die stolze Kriegerin, die Schriftenkundige, die Du einst sein wolltest. Es liegt an Dir selbst, ferne Städte zu bereisen, Wissen zu sammeln, um eines Tages als Gelehrte einem mächtigen Herrn dienen zu können.
Stolz und Enttäuschung erfüllten sie, als sie von dem Brief aufsah. Stolz darüber, was ihr Lehrmeister über sie geschrieben hatte. Stolz darüber, dass der alte Mann sie anerkannt und nicht mehr als das kleine Mädchen betrachtet hatte; Enttäuschung darüber, dass sie nicht mehr über den Narren erfuhr und weshalb sie ihn tatsächlich suchen musste.
»Was hat dein Meister geschrieben?«, fragte der Bärtige vorsichtig. Wortlos schob Marbana ihm den Brief zu, doch der Mann griff nicht danach, sondern starrte sie nur weiter auffordernd an. Als keiner Anstalten machte, den Brief lesen zu wollen, begriff das Mädchen und las den ersten Teil vor.
»Ihr kommt aus Tarangien?«, fragte der Priester überrascht, der nun doch den Brief genommen hatte und ihn still überflog. »Ihr habt einen weiten Weg hinter euch!«
»Komm!« Der Bärtige erhob sich von seinem Stuhl und schritt zur Tür hinaus. Hastig sammelte Marbana die Briefe zusammen und legte sie in das Bündel, das sie sich erneut um die Brust wickelte, ehe sie dem Dorfbewohner hinaus folgte.
Es dämmerte bereits, als sie das kleine Dorf querten und an eine Hütte traten. Der Bärtige schob die Tür auf und deutete ihr hineinzugehen. »Du schläfst heute hier. Es ist das Heim des Narren. Morgen verlässt du das Dorf! Du hast bereits genug Unheil über uns gebracht.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Mann um und stapfte den Weg zurück.
Vorsichtig trat sie in das Innere der Hütte und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. Alles erweckte den Anschein, als hätte der Narr sein Heim fluchtartig verlassen. Die Felle, welche die Holzbank wohl in ein Bett verwandelt hatten, lagen verschoben oder waren zu Boden gefallen. Ein Stuhl stand inmitten des Raumes, im hinteren Bereich war eine Truhe, daneben eine Feuerstelle. Viel mehr an Einrichtung gab es nicht. Mit einem wehmütigen Seufzen schloss Marbana die Tür, ging zur Schlafstätte, rückte die Felle zurecht und legte sich nieder, um erneut, wie die Nächte zuvor, in trister Einsamkeit in Schlaf zu verfallen.
Ein leises Atmen war zu vernehmen. Jemand stand dicht neben ihr, sie konnte ihn riechen. Zweifellos ein Mann, dessen Kleidung nach modriger Erde und Tierfellen roch. Kaum wahrnehmbar öffnete sie die Augenlider für einen Spalt. Es war noch düster in der Hütte, doch sie konnte die Umrisse einer Gestalt neben sich klar erkennen. Mit einer schnellen Bewegung rollte sie sich zur Seite, holte mit ihrem Arm aus und schlug mit geballter Faust dem Eindringling in den Schritt. Noch ehe der Fremde stöhnend zurücktaumeln konnte, war sie aufgesprungen, umschlang seinen Hals mit dem Arm, schwang sich über seine Schulter und hielt ihn von hinten gefangen, während sie ihm mit der freien Hand über dem Becken in die Seite schlug. Sogleich sackte der Fremde erneut stöhnend unter ihrem Griff zusammen.
»Was willst du?«, fuhr sie ihn an.
»Lass mich los!« Die Stimme war erstaunlich jung.
»Sag mir, weshalb du hier bist!«
»Verrate du mir, was du vom Narren willst!«
Marbana ließ den Fremden los und stieß ihn nach vorn. Es wäre ihr ein Leichtes, den Eindringling erneut zu bezwingen.
»Wer bist du?«, fragte sie mit aufgeregter, aber bestimmter Stimme.
»Jophur. Meinem Vater gehört der Hof am oberen Ende des Dorfes«, antwortete der Junge zögernd, sichtlich von der Kraft des Mädchens überrascht.
»Was willst du hier?«
»Der Narr war ein Freund! Was willst du von ihm?«
»Weißt du, wo er ist?«, fragte Marbana, ohne auf seine Frage einzugehen.
Jophur zuckte mit den Schultern. Er war eingeschüchtert.
Marbana seufzte. »Mein Lehrmeister war auf der Suche nach ihm. Wir sind nicht die Einzigen, die ihn suchen, und bestimmt werden ihn die anderen finden, wenn ich es nicht tue. Nur dass ich nicht die Absicht habe, ihn zu töten.«
Misstrauisch musterte sie der Junge. Waffen trug sie tatsächlich keine – zumindest nicht sichtbar. Schließlich gab er nach und deutete ihr, ihm nach draußen zu folgen.
»Er ist in den Wald gegangen, nach Westen.«
»Hat er dir gesagt, wohin er wollte?«
»Nein, aber es führen Spuren dorthin, die nicht zurückführen – und er ist der Einzige, der das Dorf verlassen hat.«
»Was will er im Westen?«
»Es gibt einen Pfad durch die Berge, wenn man dem folgt, kommt man zu den Bergweiden und weiter nach Lamarn, wo auch die Tempelschule ist. Man kann auch in die Tiefebene hinabsteigen, nach Dumgust.«
»Kannst du mich dorthin führen?«
Jophur trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Der Narr war sein Freund gewesen, er war vor den zwei Fremden geflohen. Andererseits sah das Mädchen – trotz seines erstaunlichen Geschicks – nicht gefährlich aus und bestimmt würde der Narr es bezwingen können.
Was, wenn die Fremden eine Art Botschaft für den Narren hatten, schließlich war er hurtig geflohen, ohne abzuwarten, wer auf dem Weg ins Dorf war. Hin- und hergerissen starrte der Junge dem Mädchen schließlich in die Augen.
»Ich muss diesem Narren lediglich einen Brief geben«, seufzte Marbana ungeduldig. »Hilfst du mir nun oder nicht?«
»Ich zeige dir den Weg!«, gab Jophur schließlich nach.
Es setzte bereits das Morgengrauen ein, als sie durch das inzwischen belebte Dorfzentrum schritten. »Bist du bewaffnet?«, fragte er leise an Marbana gewandt, als sie zu ihm aufgeschlossen hatte.
»Ich benötige keine Klinge, um dich niederzustrecken, solltest du dich gegen mich stellen!«, zischte sie argwöhnisch zurück.
»Das hast du bereits bewiesen.« Er verzog schmerzlich den Mund. »Doch du wirst ein Messer im Wald brauchen und Proviant, zumindest eine Decke.«
Marbana nickte stumm. Der Bursche hatte recht, sie hatte alles in den Regengüssen verloren.
»Wir können alles für die Reise hier im Dorf besorgen – sofern du bezahlen kannst?«
»Sorge dich nicht darum!«, antwortete sie gereizt. Tandûn von Amosthal hatte großen Wert darauf gelegt, dass Marbana stets einige Kupferlinge eingesteckt hatte, sollten sie beide getrennt werden, ihr etwas zustoßen oder sie etwas besorgen müssen.
Sie erreichten im Dorf den Schmied, der mit seinem Sohn schon am Werke war. Bei ihm konnten sie ein kleines Messer kaufen. Im Haus gegenüber gab es einen Trinkschlauch und etwas Proviant zu erstehen. Zuletzt suchten sie den Hof von Jophurs Eltern auf, der etwas abseits im Westen des Dorfes lag. Während der Vater im Stall die Tiere fütterte, saß die Mutter in der Stube und flickte Kleider. Jophur gab Marbana eine Decke für die Nächte mit und führte sie zu der schmalen Straße, die in den Wald ging. Dort verabschiedete er sich von ihr.
Es war der zweite Tag, an dem sie durch den endlosen, einsamen Nadelwald ging. Sie war bisher keinem begegnet, wurde von niemandem verfolgt. Es war trostlos. Die meiste Zeit war sie in Gedanken versunken und dachte an ihren Lehrmeister. Inzwischen waren Wut und Zweifel in ihr aufgestiegen. Wut darüber, dass Tandûn sie nicht in seine Absichten eingeweiht hatte, Zweifel darüber, ob sie der Aufgabe gewachsen sein würde.
Wenn die Gedanken zu erdrückend wurden, versuchte sie sich den Narren vorzustellen, einen wohl verrückten Mann, vielleicht sogar bucklig und alt, der nur wirres Zeug sprach. Warum sonst nannte man ihn den Narren?
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