Aber trotz der Weiber würde er arbeiten, arbeiten, arbeiten! Er würde keine Zicken machen, er nicht, nie wieder! Er war geheilt!
16. Das Ende der Frau Rosenthal
Am Sonntagmorgen wachte Frau Rosenthal mit einem Schreckensschrei aus tiefem Schlaf auf. Sie hatte wieder etwas Grausiges von dem geträumt, was sie jetzt fast in jeder Nacht heimsuchte: sie war mit Siegfried auf der Flucht. Sie versteckten sich, die Verfolger gingen an ihnen vorüber, wobei sie die so schlecht Versteckten aus den Augenwinkeln zu verhöhnen schienen.
Plötzlich fing Siegfried an zu laufen, sie hinter ihm drein. Sie konnte nicht so schnell laufen wie er. Sie rief: »Nicht so schnell, Siegfried! Ich komme nicht mit! Lass mich nicht allein!«
Er hob sich von der Erde, er flog. Flog erst wenig über dem Pflaster, dann hob er sich immer höher, nun entschwand er über den Dächern. Sie stand allein auf der Greifswalder Straße. Ihre Tränen liefen. Eine große, riechende Hand legte sich erdrückend vor ihr Gesicht, eine Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Olle Judensau, hab ich dich endlich?«
Sie starrte nach der Verdunkelung vor den Fenstern, an den Spalten sickerte Tageslicht hinein. Die Schrecken der Nacht entwichen vor denen des Tages, der ihr bevorstand. Es war schon wieder Tag! Wieder hatte sie den Kammergerichtsrat verschlafen, den einzigen Menschen, mit dem sie sprechen konnte! Sie hatte sich fest vorgenommen, wach zu bleiben, und nun war sie doch wieder eingeschlafen! Wieder einen Tag allein, zwölf Stunden, fünfzehn Stunden! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wände dieses Zimmers stürzten über ihr zusammen, immer das gleiche bleiche Gesicht im Spiegel, stets wieder dasselbe Geld zählen – nein, so ging es nicht weiter! Das Schlimmste war nicht so schlimm wie dieses tatenlose Eingesperrtsein.
Hastig kleidet sich Frau Rosenthal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Riegel, öffnet leise und späht auf den Flur hinaus. Alles ist still in der Wohnung, auch im Hause ist noch alles still. Die Kinder lärmen noch nicht auf der Straße – es muss noch sehr früh sein. Vielleicht ist der Rat noch in seinem Bücherzimmer? Vielleicht kann sie ihm noch guten Morgen sagen, zwei, drei Sätze mit ihm wechseln, die ihr Mut machen werden, einen endlosen Tag zu ertragen?
Sie wagt es, gegen sein Verbot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zimmer ein. Sie schreckt etwas vor der Helle zurück, die durch die geöffneten Fenster hereinströmt, vor der Straße, der Öffentlichkeit, die mit dieser Luft zusammen hier jetzt herrschen. Aber mehr noch erschrickt sie vor einer Frau, die mit einem Teppichroller den Zwickauer Teppich reinigt. Sie ist eine dürre, ältere Frau; das Tuch um den Kopf, der Teppichroller bestätigen, dass sie hier die Reinmachefrau ist.
Beim Eintritt von Frau Rosenthal hat diese Frau die Arbeit unterbrochen. Sie starrt erst einen Augenblick die unerwartete Besucherin an, wobei sie die Augenlider rasch hintereinander ein paar Mal zukneift, als könne sie den Anblick da nicht für ganz wirklich nehmen. Dann lehnt sie den Teppichroller gegen den Tisch und fängt an, mit Händen und Armen abwehrende Bewegungen zu machen, wobei sie von Zeit zu Zeit ein scharfes »Sch! Sch!« ausstößt, als scheuche sie Hühner.
Frau Rosenthal, schon im Rückzug, sagt flehend:
»Wo ist der Kammergerichtsrat? Ich muss ihn einen Augenblick sprechen!«
Die Frau kneift die Lippen eng zusammen und schüttelt heftig den Kopf. Dann beginnt sie wieder mit ihren Scheuchbewegungen und dem »Sch! Sch!«, bis Frau Rosenthal ganz in ihr Zimmer zurückgewichen ist. Dort sinkt sie, während die Reinmachefrau leise die Tür schließt, an ihrem Tisch in den Sessel und bricht fassungslos in Tränen aus. Alles umsonst! Wieder ein Tag, der sie nur zum einsamen, sinnlosen Warten verurteilt! Viel geschieht in der Welt, vielleicht stirbt jetzt gerade Siegfried, oder eine deutsche Fliegerbombe tötet ihr die Eva – sie aber muss hier immer weiter im Dunkeln sitzen und nichts tun.
Sie schüttelt unwillig den Kopf: sie macht dies einfach nicht mehr mit. Sie macht es nicht! Wenn sie unglücklich sein soll, wenn sie denn ewig gehetzt und in Angst leben soll, so will sie dies auf ihre Art tun. Möge sich denn diese Tür für immer hinter ihr schließen, sie kann es nicht hindern. Sie war gut gemeint, diese Gastfreundschaft, aber sie tut ihr nicht gut.
Als sie wieder an der Tür steht, besinnt sie sich. Sie geht wieder an den Tisch zurück und nimmt das dicke, goldene Armband mit den Saphiren. Vielleicht so …
Doch in dem Arbeitszimmer ist die Frau nicht mehr, die Fenster sind schon wieder geschlossen. Frau Rosenthal steht abwartend auf dem Flur, nahe der Ausgangstür. Dann hört sie Tellergeklapper, und sie folgt diesem Geräusch, bis sie die Frau in der Küche beim Abwaschen findet.
Sie hält ihr flehend das Armband hin und sagt stockend: »Ich muss den Kammergerichtsrat wirklich sprechen. Bitte, bitte doch!«
Die Bedienerin hat bei der neuerlichen Störung die Stirn gerunzelt. Nur einen flüchtigen Blick wirft sie auf das hingehaltene Armband. Dann beginnt sie wieder zu scheuchen, mit rudernden Armbewegungen und »Sch! Sch!«, und vor diesem Scheuchen flieht Frau Rosenthal in ihr Zimmer. Sie stürzt geradezu auf ihren Nachttisch zu, sie nimmt aus der Lade das ihr vom Kammergerichtsrat verordnete Schlafmittel.
Sie schüttet alle Tabletten, zwölf oder vierzehn an der Zahl, in ihre hohle Hand, geht zum Waschtisch und spült sie mit einem Glase Wasser hinunter. Sie muss heute schlafen, sie wird heute den Tag verschlafen … Dann wird sie abends den Kammergerichtsrat sprechen und hören, was zu tun ist. Sie legt sich angekleidet auf das Bett, zieht die Decke nur leicht über sich. Still auf dem Rücken liegend, die Augen zur Decke gerichtet, wartet sie auf den Schlaf.
Und er scheint wirklich zu kommen. Die quälenden Gedanken, die immer gleichen Schreckbilder, die von der Angst in ihrem Hirn geboren werden, sie verschwimmen. Sie schließt die Augen, ihre Glieder entspannen sich, werden schlaff, sie hat sich schon fast hinübergerettet in ihren Schlaf …
Da ist es, als hätte sie auf der Schwelle zu diesem Schlaf eine Hand zurückgestoßen ins Wachen. Sie ist förmlich zusammengeschreckt, solch einen Ruck hat es ihr gegeben. Ihr Körper ist zusammengezuckt wie in einem plötzlichen Krampf …
Und wieder liegt sie, die Decke anstarrend, auf dem Rücken, die ewig gleiche Mühle dreht die ewig gleichen Qualgedanken und Angstbilder in ihr. Dann – allmählich – wird das schwächer, die Augen schließen sich, der Schlaf ist nahe. Und wieder auf seiner Schwelle der Stoß, der Ruck, der Krampf, der ihren ganzen Körper zusammenzieht. Wieder ist sie vertrieben aus der Ruhe, dem Frieden, dem Vergessen …
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