Was war in diesen Mann gefahren, seit sie jenes vorschnelle, unbedachte Wort gesagt hatte? Was trieb ihn so ruhelos um? Sie kannte ihn doch: Seitdem sie das gesagt hatte, sann er nur darauf, ihr zu zeigen, dass der nicht »sein« Führer war. Als wenn sie es je ernstlich so gemeint hätte! Sie hätte es ihm sagen müssen, dass sie das Wort nur im ersten trauernden Zorn gesagt hatte. Sie hätte auch ganz andere Dinge sagen können gegen diese Verbrecher, die sie so sinnlos des Sohnes beraubt hatten – grade dieses Wort musste ihr herausfahren!
Aber nun hatte sie eben grade dies gesagt, und nun lief er in der Welt umher und begab sich in alle möglichen Gefahren, um recht zu behalten, um ihr das Unrecht, das sie ihm angetan, noch ganz handgreiflich zu beweisen! Womöglich kam er gar nicht wieder. Hatte etwas gesagt oder getan, was die Werkleitung oder die Gestapo auf ihn hetzte – womöglich saß er schon im Loch! So unruhig, wie dieser ruhige Mann schon am frühen Morgen gewesen war!
Anna Quangel hält es nicht aus, so tatenlos kann sie nicht mehr auf ihn warten. Sie macht ein paar Stullen zurecht und tritt den Weg zu seiner Fabrik an. Auch darin ist sie ganz sein getreues Eheweib, dass sie selbst jetzt, wo es ihr auf jede Minute, die sie früher Gewissheit hat, ankommt, nicht die Bahn benutzt. Nein, sie geht zu Fuß – sie spart den Groschen wie er.
Vom Pförtner der Möbelfabrik erfährt sie dann, dass der Werkmeister Quangel pünktlich wie immer auf seine Arbeitsstelle gekommen ist. Sie lässt ihm durch einen Boten die »vergessenen« Stullen hineinschicken und wartet auch noch die Rückkehr des Boten ab.
»Nun, was hat er gesagt?«
»Was soll er denn gesagt haben …? Der sagt doch nie was!«
Jetzt kann sie beruhigter nach Haus gehen. Es ist noch nichts geschehen, trotz all seiner Unruhe am Morgen nicht. Und heute Abend wird sie mit ihm sprechen …
Er kommt in der Nacht. Sie sieht seinem Gesicht an, wie müde er ist.
»Otto«, sagt sie bittend, »ich habe es doch nicht so gemeint. Nur im ersten Erschrecken ist es mir so rausgefahren. Sei nicht mehr böse!«
»Ich – böse – dir? Wegen so was? Nie!«
»Aber du willst was tun, ich spüre es! Otto, tu’s nicht, stürze dich wegen so was nicht ins Unglück! Ich könnte es mir nie verzeihen.«
Er sieht sie einen Augenblick an, fast lächelnd. Dann legt er beide Hände rasch auf ihre Schultern. Schon zieht er sie wieder fort, als schäme er sich dieser raschen Zärtlichkeit.
»Was ich tun werde? Schlafen werde ich! Und morgen sage ich dir, was wir tun werden!«
Nun ist der Morgen gekommen, und Quangel schläft noch. Aber jetzt kommt es auf eine halbe Stunde mehr oder weniger nicht an. Er ist bei ihr, er kann nichts Gefährliches tun, er schläft.
Sie wendet sich ab von seinem Bett, sie macht sich wieder an ihre kleinen Hausarbeiten. –
Unterdes ist Frau Rosenthal längst bei ihrer Wohnungstür angekommen, so langsam sie auch treppauf ging. Sie ist nicht überrascht, die Tür verschlossen zu finden – sie schließt sie auf. Und auch in der Wohnung drinnen sucht sie nicht erst lange nach Siegfried oder ruft nach ihm. Auch das wüste Durcheinander beachtet sie nicht, wie sie auch schon wieder vergessen hat, dass sie ja eigentlich dem Schritt ihres Mannes folgend die Wohnung betreten hat.
Ihre Benommenheit ist in einem langsamen, unaufhaltsamen Wachsen. Man kann nicht sagen, dass sie schläft, aber sie ist auch nicht wach. Wie sie die schwer gewordenen Glieder nur langsam und unbeholfen bewegen kann, weil sie wie taub sind, so ist auch ihr Gehirn wie taub. Es kommen Bilder wie Flocken und zerrinnen auch schon wieder, ehe sie sie noch recht deutlich sehen konnte. Sie sitzt in der Sofaecke, die Füße auf der verschmutzten Wäsche, sie sieht sich langsam und träge um. In der Hand hält sie noch immer die Schlüssel und das Saphirarmband, das ihr Siegfried zu Evas Geburt schenkte. Der Gewinn einer ganzen Weißen Woche … Sie lächelt ein bisschen.
Dann hört sie, wie die Flurtür vorsichtig geöffnet wird, und sie weiß: das ist Siegfried. Jetzt kommt er. Deswegen bin ich doch hier raufgegangen. Ich will ihm entgegengehen.
Aber sie bleibt sitzen, ein Lächeln ausgebreitet auf dem ganzen grauen Gesicht. Sie wird ihn hier so sitzend empfangen, als sei sie nie fort gewesen, habe immer hier, zu seinem Empfang, gesessen.
Dann geht endlich die Tür, und statt des erwarteten Siegfried stehen drei Männer in der Tür. Schon als sie unter den dreien eine verhasste braune Uniform sieht, weiß sie: das ist nicht Siegfried, Siegfried ist nicht dabei. Ein bisschen Angst will sich in ihr rühren, aber wirklich nur ein ganz klein bisschen. Nun ist es endlich soweit!
Langsam schwindet das Lächeln von ihrem Gesicht, das vom Grauen ins gelblich Grüne hinüberwechselt.
Die drei stehen jetzt direkt vor ihr. Sie hört, wie ein großer, schwerer Mann in schwarzem Paletot sagt: »Nicht besoffen, mein Junge. Wahrscheinlich schlafmittelvergiftet. Wir wollen schnell mal sehen, dass wir aus ihr rausquetschen, was zu holen ist. Hören Sie mal, Sie sind Frau Rosenthal?«
Sie nickt. »Jawohl, meine Herren, Lore oder richtiger Sara Rosenthal. Mein Mann sitzt in Moabit, zwei Söhne in den USA, eine Tochter in Dänemark, eine in England verheiratet …«
»Und wie viel Geld haben Sie denen geschickt?«, fragte der Kriminalkommissar Rusch schnell.
»Geld? Zu was denn Geld? Die haben doch alle Geld genug! Zu was soll ich denen noch Geld schicken?«
Sie nickt ernst. Ihre Kinder leben alle in guten Verhältnissen. Die könnten noch ohne Mühe die Eltern ernähren. Plötzlich fällt ihr etwas ein, was sie unbedingt diesen Herren noch sagen muss. »Es ist meine Schuld«, sagt sie unbeholfen mit schwerer Zunge, die immer schwerer zu sprechen, zu lallen anfängt, »es ist allein meine Schuld. Siegfried wollte längst aus Deutschland fort. Aber ich sagte ihm: ›Warum all die schönen Sachen, das gute Geschäft hier lassen, für einen Dreck verkaufen? Wir haben nie jemandem etwas getan, uns werden sie nichts tun.‹ Ich habe ihn überredet, sonst wären wir längst weg!«
»Und wo haben Sie Ihr Geld gelassen?«, fragte der Kommissar, ein wenig ungeduldiger.
»Das Geld?« Sie versucht, sich zu besinnen. Es war ja wirklich noch etwas da gewesen. Wo war es nur hingekommen? Aber das scharfe Nachdenken macht ihr Mühe, dafür fällt ihr etwas anderes ein. Sie hält das Saphirarmband dem Kommissar hin. »Da«, sagt sie einfach. »Da!«
Der Kommissar Rusch wirft einen raschen Blick darauf, dann sieht er sich nach seinen beiden Begleitern um, diesem zackigen HJ-Führer und nach seinem ständigen Gefolgsmann, dem Friedrich, einem dicken Klotz, anzusehen wie ein Scharfrichtergehilfe. Er sieht, dass die beiden ihn gespannt beobachten. So stößt er die Hand mit dem Armband ungeduldig beiseite, er packt die schwere Frau bei den Schultern und beutelt sie ordentlich durch. »Wachen Sie jetzt endlich auf, Frau Rosenthal!«, schreit er. »Ich befehle es Ihnen! Sie sollen aufwachen!«
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