Als sich das drei- oder viermal wiederholt hat, gibt sie es auf, den Schlaf zu erwarten. Sie steht auf, geht langsam, ein wenig taumelig, mit hängenden Gliedern an den Tisch und setzt sich. Sie starrt vor sich hin. Sie erkennt in dem Weißen, das vor ihr liegt, den Brief an Siegfried, den sie vor drei Tagen begann, der nicht über die ersten Zeilen hinauskam. Sie sieht weiter: sie erkennt die Scheine, die Schmucksachen. Dort hinten steht auch das Tablett mit dem ihr bestimmten Essen. Sonst hat sie sich morgens völlig ausgehungert darübergestürzt, jetzt mustert sie es mit gleichgültigem Blick. Sie mag nicht essen …
Während sie dort so sitzt, ist ihr dunkel bewusst, dass die Tabletten doch eine Veränderung in ihr hervorgerufen haben: wenn sie ihr auch keinen Schlaf schenken konnten, so haben sie ihr doch die jagende Unruhe des Morgens genommen. Sie sitzt nur so da, manchmal ist sie auch im Sessel beinahe eingenickt, dann fährt sie wieder hoch. Einige Zeit ist vergangen, ob viel oder wenig, das weiß sie nicht, aber einige Zeit von diesem Schreckenstag ist doch wohl fort …
Dann, später, hört sie einen Schritt auf der Treppe. Sie fährt zusammen – in einem Augenblick der Selbstbeobachtung sucht sie sich darüber klarzuwerden, ob sie von diesem Zimmer aus überhaupt hören kann, wenn jemand auf der Treppe geht. Aber diese kritische Minute ist schon wieder vorbei, und sie lauscht nur angespannt auf den Schritt im Treppenhaus, den Schritt eines Menschen, der sich mühsam treppauf schleppt, immer wieder innehaltend, dann, nach einem Hüsteln, sich wieder am Treppengeländer hochziehend.
Jetzt hört sie nicht nur, jetzt sieht sie auch. Sie sieht Siegfried ganz deutlich, wie er sich da durch das noch stille Treppenhaus in ihre Wohnung hinaufschleicht. Sie haben ihn natürlich wieder misshandelt, um seinen Kopf liegen ein paar hastig geschlungene Binden, die schon wieder durchblutet sind, und sein Gesicht ist wund und fleckig von ihren Faustschlägen. So schleppt sich Siegfried mühselig die Treppen hinauf. In seiner Brust krächzt und orgelt es, in dieser Brust, die von ihren Fußtritten verletzt ist. Sie sieht Siegfried um den Treppenabsatz herum entschwinden …
Eine Weile sitzt sie noch so da. Bestimmt denkt sie an gar nichts, auch nicht an den Kammergerichtsrat und das mit ihm Vereinbarte. Sondern sie muss da oben in die Wohnung – was soll Siegfried denken, wenn er sie leer findet? – Aber sie ist so schrecklich müde, und es ist fast unmöglich, aus dem Sessel hochzukommen!
Dann steht sie doch wieder da. Sie nimmt das Schlüsselbund aus der Handtasche, greift nach dem Saphirarmband, als sei es ein Talisman, der sie beschützen kann – und langsam und taumelig geht sie aus der Wohnung. Die Tür fällt hinter ihr zu.
Der nach langem Bedenken von seiner Bedienerin doch endlich geweckte Kammergerichtsrat kommt zu spät, um seinen Gast von diesem Ausflug in eine zu gefährliche Welt abzuhalten.
Der Rat steht einen Augenblick in der leise wieder geöffneten Tür, er lauscht nach oben, er lauscht nach unten. Er hört nichts. Dann, als er doch etwas hört, nämlich den raschen, energischen Schritt von Stiefeln, zieht er sich wieder in seine Wohnung zurück. Aber er verlässt den Ausguck an der Tür nicht. Sollte es doch noch eine Möglichkeit geben, diese Unselige zu retten, er wird ihr doch noch einmal trotz aller Gefahr seine Tür öffnen.
Frau Rosenthal hat es gar nicht gemerkt, dass sie auf der Treppe an jemand vorüberging. Sie hat nur den einen Gedanken, möglichst rasch die Wohnung mit Siegfried zu erreichen. Aber der HJ-Führer Baldur Persicke, der eben zu einem Morgenappell will, bleibt völlig verblüfft, mit offenem Munde auf der Treppe stehen, als diese Frau, ihn fast anstoßend, an ihm vorübergeht. Die Rosenthal, die tagelang verschwundene Rosenthal, an diesem Sonntagmorgen unterwegs, in einer dunklen gestickten Bluse ohne Judenstern, ein Schlüsselbund und ein Armband in der einen Hand, mit der anderen sich mühsam am Treppengeländer hochziehend – so besoffen ist die Frau! Am frühen Sonntagmorgen schon so besoffen!
Einen Augenblick steht Baldur noch so da, in völliger Verblüffung. Aber als Frau Rosenthal um die Treppenkehre herum verschwunden ist, kehren seine Gedanken wieder in ihn zurück, und sein Mund schließt sich. Er hat das Gefühl, jetzt ist der richtige Augenblick gekommen, jetzt darf er nur nichts falsch machen! Nein, diesmal wird er die Sache allein erledigen, weder die Brüder noch der Vater noch ein Barkhausen sollen sie ihm versauen.
Baldur wartet noch, bis er sicher ist, dass Frau Rosenthal jetzt schon die Quangel’sche Wohnung erreicht hat, dann geht er leise in die elterliche Wohnung. Dort schläft noch alles, und das Telefon hängt auf dem Flur. Er hebt ab und dreht die Scheibe, dann verlangt er einen bestimmten Apparat. Er hat Glück: trotz des Sonntags bekommt er die Verbindung und auch den richtigen Mann. Er sagt kurz, was zu sagen ist; dann rückt er sich einen Stuhl an die Tür, öffnet sie einen Spalt und macht sich geduldig darauf gefasst, eine halbe oder auch eine Stunde Wache halten zu müssen, damit der Vogel nicht wieder entwischt …
Bei Quangels ist nur erst Anna wach, leise wirtschaftet sie in der Wohnung. Zwischendurch sieht sie nach Otto, er schläft noch immer ganz fest. Er sieht müde und gequält aus, selbst jetzt im Schlaf. Als ließe ihm irgendetwas keine Ruhe. Sie steht da und sieht nachdenklich in das Gesicht des Mannes, mit dem sie fast drei Jahrzehnte Tag für Tag zusammengelebt hat. Sie hat sich natürlich längst an dieses Gesicht gewöhnt, das vogelscharfe Profil, der dünne, fast stets geschlossene Mund – das erschreckt sie nicht mehr. So sieht eben der Mann aus, dem sie ihr ganzes Leben geweiht hat. Es kommt nicht auf das Aussehen an …
Aber an diesem Morgen scheint ihr doch, als sei das Gesicht noch schärfer geworden, der Mund noch schmaler, als hätten sich die Falten von der Nase her noch mehr vertieft. Er hat Sorgen, schwere Sorgen, und sie hat es versäumt, rechtzeitig mit ihm darüber zu sprechen, ihm die Last tragen zu helfen. An diesem Sonntagmorgen, vier Tage nachdem sie die Nachricht vom Tode des Sohnes bekommen hat, ist Anna Quangel wieder fest davon überzeugt, nicht nur, dass sie bei diesem Manne wie bisher auszuhalten hat, sondern dass sie auch im Unrecht war, überhaupt erst mit dieser Trotzerei anzufangen. Sie hätte ihn besser kennen müssen: er schwieg lieber, als dass er sprach. Sie musste ihn stets ermuntern, ihm die Zunge lösen – von selbst sprach dieser Mann nie.
Nun, heute wird er sprechen. Er hatte es ihr zugesagt, heute in der Nacht, als er von der Arbeit heimgekommen war. Anna hatte da einen schlimmen Tag hinter sich gebracht. Als er ganz ohne Frühstück losgelaufen war, als sie Stunden vergeblich auf ihn gewartet hatte, als er auch nicht zum Mittagessen erschienen war, als ihr klar wurde, jetzt hatte seine Arbeit schon begonnen, jetzt würde er bestimmt nicht mehr kommen – da war sie völlig verzweifelt gewesen.
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