Dann lässt er sie los: Ihr Kopf fällt hinten gegen die Sofalehne, der Körper sackt in sich zusammen – ihre Zunge lallt etwas Unverständliches. Dieses Mittel, sie wach zu machen, scheint nicht ganz richtig gewesen zu sein. Eine Weile betrachten die drei schweigend die alte Frau, wie sie da zusammengesunken hockt, das Bewusstsein scheint nicht in sie zurückzukehren.
Der Kommissar flüstert plötzlich ganz leise: »Nimm sie dir mal mit, da hinten in die Küche, und sieh, dass du sie wach kriegst!«
Der Henkersknecht Friedrich nickt nur. Er nimmt die schwere Frau wie ein Kind auf den Arm und steigt vorsichtig mit ihr über die am Boden liegenden Hindernisse fort.
Als er an der Tür ist, ruft der Kommissar noch: »Sieh, dass sie ruhig bleibt! Ich will keinen Krach haben am Sonntagmorgen in einem Mietshause! Sonst machen wir es in der Prinz-Albrecht-Straße. 1Ich nehme sie sowieso dahin mit.«
Die Tür klappt hinter den beiden, der Kommissar und der HJ-Führer sind allein.
Kommissar Rusch steht am Fenster und sieht auf die Straße. »Ruhige Straße das«, sagt er. »Richtiger Kinderspielplatz, wie?«
Baldur Persicke bestätigt, dass die Jablonskistraße eine ruhige Straße ist.
Der Kommissar ist ein bisschen nervös, nicht etwa wegen der Sache, die der Friedrich da mit der alten Jüdin in der Küche anstellt. I wo, solche Sachen und tollere noch entsprechen seinem Wesen. Rusch ist ein verkrachter Jurist, der den Weg zur Kriminalpolizei fand. Die gab ihn später an die Gestapo ab. Er tut gerne seinen Dienst. Er würde jeder Regierung gerne jeden Dienst getan haben, aber die zackigen Methoden dieser Regierung gefallen ihm besonders. »Bloß keine Gefühlsduselei«, sagt er manchmal zu einem Neuling. »Wir erfüllen unsere Pflicht nur dann, wenn wir unser Ziel erreichen. Der Weg dahin ist ganz egal.«
Nein, wegen der ollen Jüdin macht sich der Kommissar nicht die geringsten Gedanken, er ist wirklich frei von jeder Gefühlsduselei.
Aber dieser Junge, der HJ-Führer Persicke, passt ihm nicht recht in den Kram. Er hat Außenseiter nicht gerne bei so was, man weiß nie genau, wie sie’s aufnehmen. Freilich, dieser scheint die richtige Sorte, aber genau weiß man es immer erst nachher.
»Haben Sie gesehen, Herr Kommissar«, fragt Baldur Persicke eifrig – er will jetzt einfach nicht mehr nach der Küche hinhorchen, das ist deren Sache! »Haben Sie gesehen, sie trug keinen Judenstern?«
»Ich habe noch mehr gesehen«, sagt der Kommissar nachdenklich, »ich habe zum Beispiel gesehen, dass die Frau saubere Schuhe anhatte, und draußen ist Dreckwetter.«
»Ja«, bestätigt Baldur Persicke, noch verständnislos.
»Also muss sie einer hier im Hause versteckt gehalten haben, seit Mittwoch, wenn sie wirklich so lange nicht in der Wohnung war, wie Sie sagen.«
»Ich bin fast sicher«, fängt Baldur Persicke an, etwas unsicher gemacht durch diesen nachdenklichen, nicht von ihm ablassenden Blick.
»Fast sicher ist gar nichts, mein Junge«, sagt der Kommissar verächtlich. »Fast sicher gibt es nicht!«
»Ich bin ganz sicher!«, sagt Baldur schnell. »Ich kann jederzeit beeiden, dass Frau Rosenthal seit Mittwoch nicht in ihrer Wohnung war!«
»Schönschön«, sagt der Kommissar leichthin. »Sie wissen natürlich, dass Sie seit Mittwoch die Wohnung unmöglich allein unter Beobachtung gehalten haben können. So was nimmt Ihnen kein Richter ab.«
»Ich habe zwei Brüder in der SS«, sagt Baldur Persicke eifrig.
»Na schön«, gibt sich Kommissar Rusch zufrieden. »Es wird alles schon schiefgehen. Übrigens, was ich Ihnen noch sagen wollte, ich werde erst gegen Abend dazu kommen, hier Haussuchung zu halten. Vielleicht observieren Sie die Wohnung so lange weiter? Schlüssel haben Sie ja wohl?«
Baldur Persicke versichert zufrieden, dass er das gerne tun würde. Seinen Augen war tiefe Freude anzusehen. Na also – so ging es auch, er wusste es ja, und ganz legal!
»Es wäre ja ganz gut«, sagt der Kommissar gelangweilt und sieht wieder aus dem Fenster, »wenn dann alles etwa so rumläge wie jetzt. Natürlich, für das, was in den Schränken und Koffern ist, können Sie nicht stehen, aber sonst …«
Ehe Baldur noch antworten kann, ertönt aus dem Innern der Wohnung ein schriller, hoher Angstschrei.
»Verdammt!«, sagt der Kommissar, tut aber keinen Schritt.
Bleich, mit spitzer Nase starrt ihn Baldur an, seine Knie sind weich geworden.
Der Angstschrei ist sofort erstickt, man hört nur den Friedrich fluchen.
»Was ich sagen wollte …«, fängt der Kommissar langsam wieder an.
Er spricht aber, immerfort lauschend, nicht weiter. Plötzlich sehr lautes Schimpfen in der Küche, Getrappel, Hin- und Herstampfen. Nun brüllt Friedrich sehr laut: »Willste gleich! Willste woll!«
Dann ein lauter Schrei. Noch wüsteres Fluchen. Nun wird eine Tür aufgerissen, Gestampf über den Flur, und ins Zimmer hinein brüllt Friedrich: »Was sagen Sie nun, Herr Kommissar? Grade hatte ich sie so weit, dass sie vernünftig reden konnte, springt das Aas mir doch aus dem Fenster!«
Der Kommissar schlägt ihm wütend ins Gesicht: »Gottverdammter Trottel, ich reiß dir die Kaldaunen aus dem Leibe! Los, schnell!«
Und er stürzt aus dem Zimmer, läuft die Treppen hinunter …
»Auf den Hof doch!«, ruft Friedrich flehend, während er hinterdreinläuft. »Sie ist ja bloß auf den Hof gefallen, nicht auf die Straße! Es wird gar kein Aufsehen geben, Herr Kommissar!«
Er bekommt keine Antwort. Alle drei laufen sie die Treppen hinunter, wobei sie sich bemühen, möglichst wenig Lärm in dem sonntagsstillen Haus zu machen. Als Letzter läuft, mit einer halben Treppe Abstand, Baldur Persicke. Er hat nicht vergessen, die Wohnungstür der Rosenthals gut ins Schloss zu ziehen. Wenn ihm auch noch der Schreck in den Gliedern sitzt, weiß er doch, dass er jetzt die Verantwortung für alle die schönen Sachen dort hat. Da darf nichts fortkommen!
Die drei laufen an der Wohnung der Quangels vorbei, an der von den Persickes, an der vom Kammergerichtsrat a.D. Fromm. Nur noch zwei halbe Treppen, und sie sind auf dem Hof.
Otto Quangel war unterdes aufgestanden, hatte sich gewaschen und sah seiner Frau in der Küche zu, wie sie das Frühstück fertigmachte. Nach dem Frühstück würden sie miteinander sprechen, vorläufig hatten sie nur einen Guten-Morgen-Gruß gewechselt, aber einen freundlichen.
Plötzlich schrecken sie beide zusammen. In der Küche über ihnen ist Geschrei, sie lauschen, eines das andere gespannt und besorgt ansehend. Dann wird für Sekundenschnelle das Küchenfenster verdunkelt, etwas Schweres scheint vorbeizustürzen – und nun hören sie es schwer aufschlagen auf dem Hof. Unten schreit jemand auf – ein Mann. Und Totenstille.
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