Er drückte gegen die Haustür. Sie öffnete sich sofort. Richtig: kein Portier in solch einem viel begangenen Hause. Er stieg langsam, die Hand auf dem Geländer, die Stufen der Treppe empor, eine ehemals »hochherrschaftliche« Treppe mit Eichenparkett, von der aber viele Benutzung und Krieg jede Spur des Hochherrschaftlichen genommen hatte. Jetzt sah sie nur schmierig und abgetreten aus, die Läufer waren natürlich schon längst verschwunden, wahrscheinlich bei Kriegsausbruch eingezogen.
Otto Quangel passierte ein Anwaltsschild im Hochparterre, er nickte, langsam stieg er weiter. Es war nicht so, dass er etwa allein dies Treppenhaus benutzt hätte, nein, immerzu eilten Leute an ihm vorüber, ihm entgegenkommend oder ihn überholend. Immer hörte er Klingeln gehen, Türen schlagen, Telefone läuten, Schreibmaschinen klappern, Stimmen sprechen.
Aber dazwischen kam immer wieder ein Augenblick, da Otto Quangel das Treppenhaus ganz für sich allein hatte oder doch seinen Treppenabschnitt für sich allein, wo alles Leben sich in die Büroräume zurückgezogen zu haben schien. Das wäre dann der richtige Augenblick gewesen, es zu tun. Es war überhaupt alles richtig, genau wie er es sich gedacht hatte. Eilige Menschen, die einander nicht ins Gesicht sahen, schmutzige Fensterscheiben, durch die nur ein graues Tageslicht sickerte, kein Portier, überhaupt niemand, der an dem anderen Interesse nahm.
Als Otto Quangel im ersten Stockwerk das Schild des zweiten Anwalts gelesen hatte und durch eine deutende Hand dahin belehrt worden war, der Arzt wohne noch eine Treppe höher, nickte er zustimmend. Er machte kehrt, er kam eben gerade vom Anwalt, er ging aus dem Haus. Unnötig, sich dort weiter umzusehen, genau das Haus, wie er es brauchte, und von solchen Häusern gab es Tausende in Berlin.
Der Werkmeister Otto Quangel steht wieder auf der Straße. Ein dunkler junger Mann mit sehr weißer Gesichtshaut tritt auf ihn zu.
»Herr Quangel, nicht wahr?«, fragt er. »Herr Otto Quangel aus der Jablonskistraße, nicht wahr?«
Quangel knurrt ein abwartendes »Nu?«, ein Laut, der beides, Zustimmung wie Ablehnung, bedeuten kann.
Der junge Mann nimmt ihn für Zustimmung. »Ich soll Sie von der Trudel Baumann bitten«, sagt er, »dass Sie sie ganz vergessen. Ihre Frau möchte die Trudel auch nicht mehr besuchen. Es ist nicht nötig, Herr Quangel, dass …«
»Bestellen Sie«, sagt Otto Quangel, »dass ich keine Trudel Baumann kenne und nicht angequatscht zu werden wünsche …«
Seine Faust trifft den jungen Mann direkt an der Kinnspitze, der sackt zusammen wie ein nasser Lappen. Quangel geht achtlos durch die Leute, die zusammenzulaufen beginnen, hindurch, direkt an einem Schupo vorbei, auf die Haltestelle der Elektrischen zu. Die Bahn kommt, er steigt ein, fährt zwei Haltestellen weit. Dann fährt er in der Gegenrichtung zurück, diesmal auf der Vorderplattform des Anhängers. Es ist, wie er gedacht: der größte Teil der Menschen hat sich in der Zwischenzeit verlaufen, zehn, zwölf Neugierige stehen noch vor einem Café, in das man den Angeschlagenen wohl geschafft hat.
Er ist schon wieder bei Besinnung. Zum zweiten Mal innerhalb zweier Stunden hat Karl Hergesell sich einer amtlichen Person gegenüber auszuweisen.
»Es war wirklich nichts, Herr Wachtmeister«, versicherte er. »Ich habe ihn wohl unachtsam auf den Fuß getreten, und er schlug gleich zu. Keine Ahnung, wer das war, ich hatte meine Entschuldigung noch nicht raus, da schlug er schon zu.«
Wieder darf Karl Hergesell unangefochten gehen, kein Verdacht besteht gegen ihn. Aber er ist sich klar darüber, dass er sein Glück so nicht weiter auf die Probe stellen darf. Er ist zu diesem Ex-Schwiegervater Otto Quangel auch nur deswegen gegangen, um wegen Trudels Sicherheit klarzusehen. Nun, was diesen Otto Quangel angeht, so darf er wohl unbesorgt sein. Ein harter Vogel das, und ein böser dazu. Und gewiss kein geschwätziger, trotz seines großen Schnabelhakens. Diese Art, wie er rasch und böse zuschlug!
Und weil ein solcher Mensch vielleicht plappern konnte, war die Trudel beinahe in den Tod gehetzt worden. Der plapperte nie – auch vor denen nicht! Und um Trudel würde der sich auch kaum kümmern, er schien von der Trudel nicht mehr viel wissen zu wollen. Was solch ein rascher Kinnhaken einem doch manchmal für Aufklärung bringen kann!
Karl Hergesell geht nun völlig unbesorgt in die Fabrik, und als er dort durch vorsichtige Umfrage erfährt, dass Grigoleit und der Säugling in den Sack gehauen haben, atmet er auf. Nun ist alles sicher. Es gibt keine Zelle mehr, aber er bedauert das nicht einmal sehr. Dafür wird Trudel leben!
Im Grunde hat er sich nie so sehr für diese politische Arbeit interessiert, dafür umso mehr für die Trudel!
Quangel fährt auf der Elektrischen wieder seiner Wohnung zu, aber als er aussteigen müsste, fährt er an der Jablonskistraße vorbei. Sicher ist sicher, falls wirklich noch ein Verfolger an seinen Hacken hängt, will er sich mit ihm allein auseinandersetzen, ihn nicht in die Wohnung ziehen. Anna ist jetzt nicht in der richtigen Verfassung, mit einer unangenehmen Überraschung fertigzuwerden. Er muss erst mit ihr reden. Gewiss, er wird das tun, Anna spielt eine große Rolle bei dem, was er vorhat. Aber erst muss er anderes erledigen.
Quangel hat sich entschlossen, heute vor der Arbeit überhaupt nicht mehr nach Haus zu kommen. Er wird eben auf Kaffee und Mittagessen verzichten. Anna wird ein bisschen unruhig sein, aber sie wird schon warten und nichts Voreiliges tun. Er muss heute was erledigen. Morgen ist Sonntag, da muss alles da sein.
Er steigt wieder um und fährt in die Stadt hinein. Nein, wegen dieses jungen Menschen eben, dem er so rasch mit einem Faustschlag den Mund gestopft hat, macht sich Quangel keine großen Sorgen. Er glaubt auch nicht so recht an weitere Verfolger, er glaubt vielmehr daran, dass dieser Mann wirklich von der Trudel kam. Sie hat ja schon so was angedeutet, sie müsse gestehen, dass sie ihren Schwur gebrochen habe. Daraufhin haben die ihr natürlich allen Umgang mit ihm verboten, und sie hat diesen jungen Burschen als Boten abgesandt. All das ganz ungefährlich. Die reine Kinderei das, wirklich Kinder, die sich in ein Spiel eingelassen haben, von dem sie nicht das Geringste verstehen. Er, Otto Quangel, versteht ein wenig mehr davon. Er weiß, in was er sich da einlassen wird. Aber er wird dieses Spiel nicht wie ein Kind spielen, er wird sich jede Karte überlegen.
Er sieht die Trudel wieder vor sich, wie sie da in diesem zugigen Gang gegen das Plakat des Volksgerichtshofes lehnte – ahnungslos. Er empfindet wieder dieses unruhige Gefühl, als der Kopf des Mädchens von der Überschrift »Im Namen des deutschen Volkes« gekrönt war, er liest wieder statt der fremden die eigenen Namen – nein, nein, dies ist eine Sache für ihn allein. Und für Anna, für die Anna natürlich auch. Er wird ihr schon zeigen, wer »sein« Führer ist!
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