Er hatte mich aufgestöbert, der immer wache Spürhund. Aber ich bin jetzt auch wütend, mein Hass gibt mir die Kraft zum Protest. »Hältst du sofort das Maul!«, schreie ich wütend. »Du bist wohl mehr als der Oberpfleger? Der hat’s mir erlaubt, und du Schwein …«
»Hat er’s dir erlaubt, hat er’s dir wirklich erlaubt?« geifert er grinsend und entblößt seine verfärbten Hauer. »Na, du musst ja was mächtig Feines sein, dass der Oberpfleger solche Ausnahmen für dich macht! Nimm’s nicht übel, Kumpel, ich bin hier, damit Ordnung ist auf der Station, sonst scheißt mich der Oberpfleger an!« Damit verschwindet er, und ich lege mich zurück, ganz zufrieden, dass ich endlich ihn einmal hereingelegt habe.
Ich bin wirklich eingeschlafen, aber nur für wenige Minuten, dann weckte mich etwas. Es war wohl kein Geräusch, das mich weckte, sondern eher ein Instinkt, der mich Gefahr wittern ließ: Ich bildete in diesem Haus den Instinkt eines gejagten Wildes aus.
Ich liege auf der Seite und sehe gerade auf den Schemel vor meinem Bett, auf den ich meine Kleider gelegt habe. Ich blinzele und sehe etwas Weißes, das sich mit diesen Kleidern zu schaffen macht. Es ist schon wieder der Lexer, ganz behutsam, unendlich leise nimmt er ein Kleidungsstück von mir nach dem anderen zur Hand, fährt in die Taschen, fühlt die Nähte ab …
Mein erster Impuls ist, aufzuspringen und mich auf diesen Teufel zu stürzen, diesen nimmer ruhenden Quälgeist. Aber ich besinne mich, ich bleibe ruhig liegen, ich beobachte sein Tun. Lass ihn suchen! Ich grinse. Ich habe nicht das Allergeringste in den Taschen, was seine Begehrlichkeit reizen könnte. Nicht das Allergeringste? Mir stockt das Herz, und wieder möchte ich aufspringen und ihm die Rasierklinge entreißen, die er nun doch gefunden hat, so gut ich sie auch in eine alte Zeitung eingewickelt habe. Er wirft einen Blick auf mich. Ich drücke die Augen zu, ich schlafe. Dann, als ich wieder blinzele, sehe ich, dass er die Klinge wieder in die Zeitung wickelt und in meine Tasche zurücksteckt. Dann ist er fort.
Ich aber habe die Gefahr begriffen, springe mit einem Satz aus dem Bett, suche die Klinge hervor und eile mit ihr auf das Klo. Ein Zug an der Spülung, und die Klinge ist unauffindbar verschwunden, diese kostbare Klinge, die mir den Weg in die Freiheit öffnen sollte, wenn alles andere versagte. Eine Minute später liege ich wieder im Bett. Nicht viel zu früh, gar nicht viel zu früh! Denn da steht schon der Oberpfleger an meinem Bett und legt die Hand auf meine Schulter. »Wachen Sie auf, Sommer!«
Ich erwache, ich hoffe, gerade richtig, nicht zu leicht, nicht zu schwer.
»Stehen Sie auf, Sommer!«
Ich tue es und stehe nun im Hemd vor ihm.
»Sommer, haben Sie noch etwas Verbotenes in Ihren Taschen?«
»Nein, Herr Oberpfleger!«
»Sie wissen doch, dass alles Schneidende in diesem Hause streng verboten ist, zum Beispiel Taschenmesser, Rasierklingen, auch Nagelfeilen! Das wissen Sie doch?«
»Jawohl, Herr Oberpfleger, das hat mir einer gesagt.«
»Und Sie haben nichts Verbotenes in den Taschen?«
»Nein, Herr Oberpfleger.«
Eine kurze Pause. Dann: »Sommer, ich warne Sie noch im Guten! Gestehen Sie, und ich will ein Auge zudrücken. Sonst stecke ich Sie nach diesem ersten Tag für vier Wochen in Arrest!«
»Ich habe nichts zu gestehen, Herr Oberpfleger!«
»Schön. Dann drehen Sie mal Ihre Taschen um.«
Ich tue es, fange mit der Jacke an, die bewusste Hosentasche spare ich mir bis zuletzt auf.
»Machen Sie die Zeitung auseinander, Sommer!«
Ich tue es. Nichts, wirklich nichts.
Der Oberpfleger steht einen Augenblick nachdenkend, dann nimmt er meine Kleidungsstücke, eines nach dem anderen, selbst unter Kontrolle, aber wieder nichts. »Ziehen Sie sich an, Sommer.«
Ich tue es.
»So, und nun schicken Sie mir den Lexer her, Sie selbst bleiben bis zur Freistunde im Tagesraum.«
»Jawohl, Herr Oberpfleger!«
Ich habe ihnen eine bildschöne Arbeit gemacht; unter der Aufsicht des Oberpflegers haben sämtliche Kalfaktoren die ganze Zelle Stück für Stück umgedreht und durchsucht. Mancherlei fanden sie, aber keine Rasierklinge. Zum Schluss beschimpften sie den Lexer, sie vermuteten irgendeinen idiotischen, sinnlosen Schelmenstreich von ihm. Aber Lexer zumindest hat’s gewusst, dass ich tatsächlich eine Rasierklinge gehabt hatte. Ich hatte ihn reingelegt. Und seltsam, obgleich ihn alle, vom Oberpfleger an, beschimpften, hatte er jetzt keine Wut auf mich. Ich hatte ihn reingelegt, das imponierte ihm. Von da an band er nie wieder direkt mit mir an, wenn er auch das Stänkern nie ganz lassen konnte.
Der Nachmittag war endlos. Die einzige kleine Abwechslung war, dass wir zur »Freistunde« nach draußen geführt wurden, für zwei Stunden, von zwei Uhr bis vier Uhr nachmittags. »Draußen« war ein kleiner Grasgarten innerhalb der hohen Gefängnismauern, vielleicht vierhundert Quadratmeter groß, wo ein einziger schmaler Weg, gerade für zwei Menschen breit genug, um einen Grasfleck lief. Die Sonne schien, es war ein schöner Sommertag. Aber was die Sonne beschien, war nicht schön.
Ich rede jetzt nicht von der Umgebung, rote, nackte oder mit totem, grauem Zement bekleidete, stachelbewehrte, hohe Mauern, die Gitter an den Fenstern, die blinden Scheiben – all das kann schon allein für sich den schönsten Sommersonnentag seines Glanzes berauben. Der blaue Himmel ist nicht für dich, Gefangener, so blau; die Sonne, Gefangener, die doch deine Haut wärmt, scheint nicht für dich. Dir fehlt die Weite der Landschaft, nur zu Gaste bist du bei Himmel, frischer Luft und Sonne, deine Minuten sind gezählt, Gefangener. Deine Welt ist das trübe, düster hallende, tote Haus, in dem nie ein befreites Lachen klingt, fremd wurdest du der Sonne, Gefangener.
Aber das alles meine ich hier nicht. Ich meine die Kameraden, die Leidensgefährten, die nun, der Dämmernis entrissen, in ihren entfärbten Lumpen an der Wand lehnen, auf einer Bank hocken, und in Holzpantoffeln oder barfuß den Sandweg entlangschurren. Wie das unbarmherzige Sonnenlicht diese Gesichter entschleiert, die nur noch wie ferne, versunkene Erinnerungen anmuten, Wehe und Trauer, Tier und irre Verzweiflung!
Ich schließe die Augen, und ich sehe sie da wieder stehen, hocken, schlurren, wie ich sie hundertmal gesehen habe und vielleicht noch tausendmal sehen werde.
Da ist ein langer, schlottriger Mann, sein kurz geschorener, eisengrauer Kopf ist dicht mit blutigroten oder eiternden Schweinsbeulen, wie man in diesem Hause die Furunkel nennt, bedeckt, sein stoppliges Gesicht ist hart und kantig, und seine dunklen, tief liegenden Augen sind völlig ohne Licht.
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