Zu Anfang war ich bei meinen Spaziergängen noch arglos und glaubte beinahe jedes Wort, das mir Kurmann geläufig vortrug. Er wusste vielerlei vom Bau, obwohl er erst anderthalb Jahre hier war. Bald aber lernte ich, seine Nachrichten mit einiger Vorsicht aufzunehmen, und schließlich glaubte ich ihm kaum noch ein Wort, wenn es Neuigkeiten aus der Anstalt betraf. Kurmann glaubte sich überall von politischen Widersachern umgeben, und vor allem waren es die Kommunisten, die ihm zu schaffen machten. Dabei verfuhr er sehr primitiv: Hatte ihn irgendeiner seiner Ansicht nach geschädigt, hatte ihm zum Beispiel der Kalfaktor Brot gegeben, das nicht das volle Gewicht zu haben schien, so wurde er zum Kommunisten ernannt. Unser Oberpfleger aber, mit dem er sich gar nicht vertragen konnte, war »der Kommunistenhäuptling«, der »jeden Sonntag an alle kommunistisch gesinnten Gefangenen je sechs Zigaretten extra verteilte«. – »Finden Sie das nicht auch unerhört, Sommer?«
Ich muss hier einfügen, dass ich bei den etwas umgänglicheren Gefangenen strikt am »Sie« festhielt, wenigstens in der ersten Zeit. Alles in mir sträubte sich dagegen, in dem widerlichen Topf der Gleichmacherei zu versinken. Ich war etwas anderes als die anderen Kranken, ich war völlig gesund und hatte alle Aussicht, bald wieder in die Freiheit zu kommen – dieses kleine Wort »Sie« war wie eine letzte Erinnerung an das bürgerliche Leben, in das bald zurückzukehren ich so ersehnte. Ich habe auch beobachtet, dass meine Mitkranken, auch die stumpferen, gerne auf dieses »Sie« reagierten. Es gemahnte sie an die Zeit, da sie noch Menschen waren, da niemand ihnen jeden Schritt befahl, jeden Bissen zuteilte, sie am frühen Abend wie kleine Kinder ins Bett schickte.
Mein zweiter Gefährte im Freihof war ein Deutscher von den Halligen, der aber alles Deutsche glühend hasste und Schleswig-Holstein am liebsten zu Dänemark geschlagen hätte. Darauf kam ich nicht gerne mit ihm zu sprechen, ich konnte es kaum anhören, wenn er die Deutschen als das minderwertigste Volk der Erde hinstellte und dies mit Erlebnissen aus seiner Vergangenheit beweisen wollte. Diese Erlebnisse hatte er dem Umstand zu danken, dass er ein ernster Bibelforscher war, der sich aber nicht mit stiller Forschung begnügt hatte, sondern mit der Faust den Leibern und mit der Lunte den Scheunen verhasster Andersgläubiger zu nahe gekommen war.
Kemp war schon ein älterer Mann über die Sechzig, die letzten fünfzehn Jahre war er überhaupt nicht mehr aus Anstalten und Gefängnissen herausgekommen. Er war noch immer ein großer, stattlicher Mensch mit einem festen Gesicht, klaren, weitblickenden Augen unter buschigen, fast weißen Augenbrauen auf ungewöhnlich starkem Stirnbein.
Im Gegensatz zu den meisten Kranken, die nur gezwungen arbeiteten, war er von einem unermüdlichen Fleiß. Sein Mattenpensum für die Anstalt schaffte er spielend, und in der Freizeit danach knüpfte er unermüdlich die feinsten Filetdecken, die er dann zum Verkauf an seine Frau sandte. Dafür bekam er dann und wann ein Paket mit Lebensmitteln und neuem Garn, meist mehr Garn als Lebensmittel. Darüber klagte er aber nie.
Er hat wohl auch draußen kein glückhaftes Leben gehabt. Auf einer Hallig geboren, in jungen Jahren schon auf einem Fischkutter beschäftigt, zog er nach seiner Verheiratung nach Hamburg und eröffnete dort eine Segelmacherei, die aber nie recht ging, wahrscheinlich, weil sein Bekehrungseifer die Früchte seines Fleißes wieder vernichtete.
In seinen vielen müßigen Stunden aber segelte er für wenig Geld die Jachten reicher Hamburger Kaufleute, die sie sich wohl kaufen, aber nicht bedienen konnten. Für Viertelstunden glaubte ich dem engen hässlichen Gefängnishof entronnen zu sein, wenn Kemp mit Feuer und Humor von wilden Sturmfahrten auf der Elbe zwischen Schulau und Blankenese erzählte, oder ich lachte auch herzlich, wenn er berichtete, wie er einem verwöhnten Kaufmannssöhnlein beigebracht hatte, dass auch ein Schiffer, der ihn sicher durch den Sturm segelt (während das Söhnlein mit jungen Dämchen die Koje vollkotzt), ein Mensch ist, bei dem es nicht nur mit der Bezahlung getan ist.
Er war noch immer ein wirklich großartiger Mann, dieser Kemp (bis auf seine beiden Steckenpferde), im Übrigen hielt er sich völlig isoliert, und die anderen Kranken wagten ihn auch nie, zu belästigen oder in ihre Streitereien zu ziehen. Gegen die Verwaltung, besonders gegen den Medizinalrat, der ihn seiner Ansicht nach gegen jedes Recht hier festhielt, war er von einem glühenden Hass beseelt; Berichte, die er mir über die Durchstechereien, Rechtsbrüche und Misshandlungen dieser leitenden Herren machte, klangen oft fast überzeugend und waren doch nie richtig. Unseren Oberpfleger nannte er nur »den Strolch und Massenmörder«.
Es war schon richtig, dass reichlich viele von den Kranken starben; das aber lag, ganz abgesehen von dem mangelnden Lebenswillen dieser abgestumpften Geschöpfe, bestimmt nicht an dem Oberpfleger, sondern an dem ganzen System mit dem Geiz, der Unterernährung und Unsauberkeit. Jeder zweite Mann von uns war mit »Schweinsbeulen« bedeckt, hatte eine Furunkulose; auch ich wurde schon wenige Wochen nach meiner Ankunft davon befallen. Der Körper besaß eben nicht die geringste Widerstandskraft, jedem Krankheitskeim erlag er sofort, die Tuberkulose grassierte und holte immer wieder neue Opfer.
Übrigens wurden die Tuberkulösen nur »die Pieper« genannt, nach ihrem pfeifenden Atmen. Irgendwelche Gefühle wurden an einen Erkrankten oder Sterbenden nicht verschwendet, und soviel ist richtig, dass unser Oberpfleger ein harter Mann war, der Sentimentalitäten nicht kannte. Die meisten Kranken schienen ihm unnütze Geschöpfe, die doch zu nichts mehr gut waren. Es war schon besser, sie verschwanden von dieser Erde. Und leider hatte er damit nicht einmal so unrecht.
Mein dritter Weggenosse war ein kleiner, stämmiger Mann Anfang der Sechzig, mit Namen Zeise. Er war ein finsterer Mann, seinen eigenen Angaben nach hat er weit über die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen, Zuchthäusern und Anstalten verbracht. Er war ein unverbesserlicher Dieb, aber ein kleiner Dieb, der immer nur ganz geringe Werte erbeutet hatte. Er war aber der Ansicht, dass seine Diebischkeit völlig berechtigt war, er war eben am Tisch des Lebens immer übervorteilt worden und glaubte so das Recht zu haben, sich seinen Anteil selbst zu nehmen.
Alle anderen Menschen waren ja noch viel schlimmere Diebe, und vor allem die Wachtmeister und Pfleger im Bau hatten alle »zu viel Klebstoff« an den Fingern. Er wusste genau, was der Wachtmeister von unserer Beköstigung unterschlagen, was jener Pfleger sich aus der Fabrik von den dort arbeitenden Kranken hatte stehlen lassen. Er wusste es aber nicht nur, sondern er schrieb darüber auch ständig Anzeigen an die Staatsanwaltschaft, die er auf einem streng geheim gehaltenen Weg aus dem Bau unter Umgehung der Zensur hinausschmuggelte. Früher hatte ihm das meistens eine zusätzliche Gefängnisstrafe wegen wissentlich falscher Anschuldigung und Beamtenbeleidigung eingetragen. Aber die Staatsanwaltschaft war es wohl müde geworden, und seit Jahren erfolgte auf all seine Anzeigen überhaupt nichts mehr: Es war, als hätte er sie nie geschrieben. Das aber erhöhte noch seine Wut, es bewies ihm, dass »die Brüder alle unter einer Decke steckten«.
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