Wenn er fünf Minuten lang tatenlos am Sägebock gestanden hatte und ich flüsterte ihm zu: »Du, Mordhorst, säg wieder los! Der Wachtmeister guckt ständig her«, tat Mordhorst nichts dergleichen.
Und kam dann der Wachtmeister wirklich zu uns und sagte: »Na, Mordhorst! Nun ist’s aber genug gefaulenzt, nun mal wieder ran!«, so sagte er hitzig: »Schinde ich mich nicht schon genug für meine dreißig Pfennig am Tage?« (Wir bekamen nämlich dreißig Pfennig »Arbeitsbelohnung« am Tag, die für den Tag der Entlassung gutgeschrieben wurden.) »Soll ich mir die Haut von den Pfoten schuften für die Speckjäger, die?!« Und er sah böse zu den Fenstern des Landgerichts hinüber.
Der Wachtmeister lachte dann meist und sagte: »Du hast wieder mal deinen Koller, Mordhorst! Der Staatsanwalt wird von deinem Sägen nicht fetter und nicht magerer …«
Mordhorst aber murrte: »Man weiß, was man weiß«, griff in den Sägebügel, den ich ihm hinhielt, und weiter sägten wir, Schnitt um Schnitt, Kloben um Kloben, Stunde um Stunde.
Es waren eigentlich gute Stunden, die wir dort auf dem Holzhof abmachten. Heute denke ich nicht ungern an sie zurück, so endlos und schwer sie mich damals auch dünkten. Nach den unvermeidlichen Gliederschmerzen, die mir die ungewohnte Arbeit erst eintrug, gewöhnte sich mein Körper rasch an die Sägerei, die Arbeit half mir, die Abstinenzerscheinungen leichter zu überwinden.
Der Frühling ging jetzt so langsam in den Sommer über, auf dem Hof standen hohe Obstbäume, Birnen und Äpfel, in deren Schatten wir den Sägebock rückten, wenn die Sonne gar zu heiß brannte; die Sägen knirschten und schrien manchmal, wenn sich ein Span gegen das Blatt stemmte, eintönig klang das Klopfklopf der Holzfäller zu uns herüber; jenseits der Mauer, unsichtbar, lärmten Kinder bei ihren Spielen auf der Straße. Wir zogen erst die Jacken, dann die Westen aus; manche arbeiteten auch mit ganz entblößtem Oberkörper, wozu ich mich nie entschließen konnte; die Stunden flossen vorüber, das Leben glitt dahin, ich lebte in einem – täuschenden – Gefühl von Sicherheit und Regelmäßigkeit. Die Zeiten der Unordnung und Gefahren schienen vorbei, und es kam mir so leicht vor, dieses Leben auch draußen fortzusetzen, ein stilles, friedliches Leben, fast ohne Zukunft.
Leise sprachen Mordhorst und ich davon, was es heute Abend zu essen geben würde und wie das Essen heute Mittag gewesen war – das Essen spielte eine Hauptrolle in unseren Gesprächen, auch ich bekam wie Mordhorst keine Fresspakete und war noch mehr als er auf die Gefängniskost angewiesen. Dabei war er ein besserer Kamerad als Düstermann, der Wohlversorgte; fast jeden Tag brachte er mir etwas mit, eine Kleinigkeit, die draußen gar keinen Wert gehabt hätte, etwa eine Zwiebel, die ich mit dem Löffel zerstückelte und mir aufs Brot legte, oder eine Zigarette und ein Streichholz; dann rauchte ich abends nach dem Einschluss, wenn der Bau ruhig geworden war, behaglich meinen Glimmstängel.
Ja, im Gefängnis habe ich das Rauchen gelernt, sehr zum Ärger Düstermanns, der die Luft stets mit dem Qualm seiner Zigarren erfüllte und Zigarettenrauchen als weibisch verachtete. Ich ließ ihn aber ruhig reden, damals war mir das schon ganz egal.
Ja, Mordhorst, ein solcher Menschenfeind er auch war, half mir viel, er wurde auch ein ausgezeichneter Berater in »meiner Sache«, ein besserer als der Rechtsanwalt, der zu mir kam. Leider bin ich in die erste Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter noch ohne Mordhorsts Rat gegangen und machte dabei einen schweren Fehler, wie ich später begriff.
Es war am dritten Tage meiner Haft, und ich arbeitete noch nicht auf dem Holzhof, als Oberwachtmeister Splittstößer nachmittags um vier Uhr auf der Zelle erschien und zu mir sagte: »Kommen Sie mit, Sommer. Ziehen Sie Ihr Jackett an und kommen Sie mit.«
Ich ging hinter dem »Ober« her und war damals noch so unerfahren in Gefängnisdingen, dass ich ihn höflich fragte: »Wohin bringen Sie mich denn, Herr Oberwachtmeister?«
Ich wusste damals noch nicht, dass ein Gefangener nie fragen soll, dass er auf Fragen nie Antwort bekommt, dass er nur zu warten hat, was das Schicksal, das ein Wachtmeister, das aber auch ein Staatsanwalt sein kann, über ihn beschließt.
Ich bekam denn auch die recht grobe Antwort: »Was geht das Sie an? Das werden Sie ja alles erleben!«
Drüben auf dem Landgericht herrschte eine richtige Sommernachmittagsstimmung: Viele Zimmertüren standen offen, und ich sah auf unbesetzte, aufgeräumte Schreibtische. Es stellte sich heraus, dass der Justizwachtmeister des Landgerichts zur Post gegangen, also auch nicht imstande war, mich aus den Händen meines Gefängnisbeamten zu übernehmen; mein Beamter aber hatte es eilig, wieder in seinen Bau zurückzukommen, und es erhob sich ein kleiner Streit zwischen einer dicken, ältlichen Büroangestellten und meinem Wachtmeister.
»Ich bin nicht dazu da, auf eure Gefangenen aufzupassen«, sagte die Angestellte ärgerlich. »Immer versucht ihr solche Sachen. Wenn einer fortläuft, bin ich nachher schuld.«
»Ja, aber euer Justizwachtmeister braucht auch nicht gerade immer fortzulaufen, er weiß doch, dass der Gefangene um vier zur Vernehmung bestellt ist.«
So ging der Streit eine Weile hin und her, keiner wollte mich haben, bis schließlich das ältliche Fräulein ganz überraschend sagte: »Na ja, heute will ich’s noch mal tun, Herr Sommer wird mir schon nicht weglaufen.« Und damit sah sie mit einem freundlichen Lächeln auf mich, sie kannte mich also.
Ich wurde auf einen Stuhl gesetzt, Splittstößer zog ab, und zum ersten Mal seit Tagen sah ich wieder durch unvergitterte Fenster auf eine Straße meiner Vaterstadt, sah die Kinder spielen, und jetzt rollte gar ein Wagen des Bierverlags Trappe vorüber. Der mir sehr gut bekannte, fast befreundete Trappe saß selbst auf dem Bock.
Nun ging ein junges Mädchen, wohl auch eine Angestellte, durch das Zimmer, in das ich gesetzt war, es sah mich an, lächelte freundlich und sagte: »Guten Tag, Herr Sommer.«
Sie kannte mich also, sie war freundlich zu mir, obgleich ich unter der Beschuldigung des Mordversuchs an meiner eigenen Frau in Haft saß.
Die ältliche Angestellte eben war auch freundlich gewesen, sie hatte gesagt: »Herr Sommer läuft nicht weg« – alle waren freundlich zu mir, der beste Beweis, dass meine Sache gutstand. Wahrscheinlich erließ der Untersuchungsrichter keinen Haftbefehl gegen mich, vielleicht war ich schon in einer halben Stunde frei! Mein Herz klopfte stark und froh.
Nun kam ein älterer Mann ins Zimmer, ein langer, dürrer, grauhaariger Herr, der etwas zerstreut und etwas sorgenvoll blickte.
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