So gehen meine Gedanken, im Ganzen sind sie – trotz gelegentlicher beklommener Erwägungen – optimistisch. Ich werde schon durchkommen, schließlich bin ich ein angesehener Bürger; man wird sich hüten, mich hart anzufassen!
Dazwischen starre ich halb gedankenlos die Inschriften in der Zelle an. Manche sind mit Bleistift an die Wände geschrieben, andere mit einem Nagel in den Kalk gekratzt. Meist steht obenan ein Name, und darunter dann zwei Daten, das der Einlieferung und das der Entlassung. Es beruhigt mich sehr, dass all diese Daten so dicht beieinanderliegen, der Mann, der nach den Inschriften am längsten hier in der Zelle gesessen hat, war zehn Tage hier. Auch ein Beweis wieder, dass man nichts Schlimmes mit mir vorhat. Zehn Tage – nun, für mich kommen auch zehn Tage nicht infrage, ich hielte sie nie aus bei meinem wilden Alkoholhunger! Aber ich, ich werde ja auch in ein paar Minuten entlassen!
Und dann, wie ist es mit dem Frühstück? Auch Gefangene müssen ein Frühstück bekommen, vermutlich Wasser und trocken Brot, aber immerhin ein Frühstück. Es ist jetzt mindestens halb zehn Uhr, nach dem Sonnenstand zu urteilen, und mir hat man noch kein Frühstück gebracht! Das ist natürlich wieder ein Zeichen, dass man es nicht schlimm mit mir meint. Man will mich so schnell entlassen, dass man nicht einmal ein Frühstück an mich wendet. Der Wachtmeister spart es, ich kann mir ja draußen eins kaufen! Das ist so klar wie der Tag.
Für den Augenblick völlig beruhigt, werfe ich mich wieder auf den Strohsack und versuche zu schlafen. Ich denke an Elinor, ich versuche an die Süße des Augenblicks zu denken, als sie mir den Schnaps aus ihrem Munde zu trinken gab, aber seltsam, jetzt scheint mir das nicht mehr süß. Nein, ich will nicht mehr an den Landgasthof denken, es war zu widerlich dort, und wie fein sie mich ausgebeutelt hat, diese kleine Hure, wie den allerletzten dummen Jungen! Aber zu ihr werde ich nicht gehen wie zu Polakowski, soll sie mit ihrem Raub glücklich werden oder verrecken, ich will nie wieder etwas von ihr sehen! Ich lebe von nun an nur für Magda. Es ist nur gut, dass ich mit diesen Leuten im Gasthof so völlig durch bin; ich habe alles bezahlt, sie können mir gar nichts mehr wollen, ich werde sie nie wiedersehen. Ich wollte nur, ich wüsste über Magdas Stellung zu mir schon so gut Bescheid …
So gehen meine Gedanken. Dazwischen schlafe ich ein bisschen, drusele so halb ein und bin auch plötzlich ganz fort, wie in einer tiefen Ohnmacht. Und da bin ich wieder wach, fühle von Neuem die Qual in meinem Leib, stöhne: »Mein Gott! Mein Gott! Das halte ich nicht aus – komme ich denn noch nicht fort?« Ich renne hin und her, rüttele auch einmal an den Eisenstangen, lehne mich gegen die Tür, in der wahnsinnigen Hoffnung, dass sie vielleicht offengeblieben ist, und denke an Magda … Ehrlich gesagt: Ich habe Angst vor Magda … Sie kann so verflucht energisch sein … Aber ich bin ihr Mann, wir haben uns geliebt, sie wird mir verzeihen, sie muss es … So dreht sich die ewig gleiche Gedankenmühle …
Ich habe wieder einmal geschlafen. Das Klirren des Schlüssels hat mich geweckt. Ich springe von meinem Lager und sehe erwartungsvoll den vier Herren entgegen, die in meine Zelle eintreten. Zweien gönne ich nur einen kurzen Blick: Sie tragen die Uniform der Polizei. Der eine ist der Wachtmeister aus der Nacht, der mich hierher gebracht hat, der andere ist ein Polizeibeamter, den ich aus meiner Vaterstadt gut kenne. Manches Mal habe ich bei einem Glase Bier einen Skat mit ihm gespielt, ein guter, ordentlicher Mensch, natürlich nicht aus meiner Gesellschaftsklasse, aber ich war nie stolz. Von den beiden anderen Herren in Zivil kenne ich den einen nicht, es ist ein junger Herr mit scharf geschnittenem Gesicht und etwas starrenden, strengen Augen. Seine Unterlippe wölbt sich stark vor. Der andere Zivilist ist mir aber umso besser bekannt, es ist unser guter alter Hausarzt, der Dr. Mansfeld.
Im Augenblick, da ich ihn erkenne, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf, dass ich also doch nicht entlassen werde. Er wird mich in eine Trinkerheilstätte bringen. Aber auch das ist nicht schlimm, im Gegenteil, das ist vielleicht noch viel besser. In einem solchen Haus werden mir meine jetzigen Qualen abgenommen, sicher haben sie dort Mittel dagegen, und dann ersparen sie mir die sofortige Auseinandersetzung mit Magda. Über einen in solchem Haus untergebrachten Kranken wird Magda viel milder denken …
All das habe ich in Sekundenschnelle überlegt und bin dabei auf den Arzt zugeeilt. Ich schüttele ihm die Hand, ich sage erregt: »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, Herr Dr. Mansfeld. Sehen Sie«, ich lache ein wenig verlegen, »wie man mich hier untergebracht hat!« Und ich werfe einen Blick auf die schmutzige Zelle.
Dr. Mansfeld drückt meine Hand kräftig. Ich merke, auch er ist erregt, sein Gesicht zittert. »Ja, mein lieber Herr Sommer«, sagt er, und seine Stimme zittert. »Ich habe es nicht gewollt, dass es so mit Ihnen enden muss …«
»Enden?«, sage ich und versuche, meiner Stimme einen leichten Klang zu geben. »Enden, Herr Dr. Mansfeld? Ich denke, dies ist ein neuer Anfang! Sie bringen mich in eine Heilstätte und machen mich wieder gesund!«
»Das wollte ich vor vierzehn Tagen, mein lieber Herr Sommer«, sagt Dr. Mansfeld kopfschüttelnd. »Aber Sie haben es ja leider unmöglich gemacht. Jetzt hat der Herr Staatsanwalt das Wort.«
Und damit sieht er zu dem jüngeren Herrn mit den starrenden Augen hinüber, der jetzt seine vorstehende Unterlippe noch weiter vorschiebt, mich streng anschaut und erst zögernd sagt: »Ja, ja, natürlich.« Dann rasch: »Ich muss Sie wegen Mordversuchs an Ihrer Frau verhaften, Herr Sommer. Sie sind verhaftet!«
Ich stehe wie vom Donner gerührt, ich kann im ersten Augenblick kein Wort über die Lippen bringen. ›Dies kann kein Ernst sein‹, denke ich fieberhaft. ›Sie wollen dich nur schrecken. Mordversuch an Magda …?‹ Endlich kann ich sprechen, ich sage mit zitternder Stimme: »Mordversuch an meiner Frau, das ist doch lächerlich! Ich habe Magda doch nie ermorden wollen!«
Der Herr Staatsanwalt sieht mich vernichtend an und stößt scharf hervor: »Wir werden Ihnen schon beibringen, wie lächerlich das ist, Sommer!« Und: »Kommen Sie, Herr Doktor!« Noch einmal zu dem städtischen Wachtmeister: »Sie wissen also Bescheid, Wachtmeister. Führen Sie den Mann ab!«
»Herr Dr. Mansfeld!«, rufe ich aufgeregt, maßlos verzweifelt hinter den Fortgehenden drein. »Herr Dr. Mansfeld, Sie wissen doch, wie sehr ich Magda geliebt …«
Die Tür schlägt hinter den beiden Zivilisten zu, ich bin mit den beiden Uniformierten allein. Fassungslos hocke ich mich auf meinen Strohsack und verberge das Gesicht in den Händen.
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