Sie sah mir in die Augen, so nahe, ein einziges Auge schien es zu sein, das mir verschwamm, als hätte ich in die helle Sonne gestarrt. Sie flüsterte nahe an meinem Ohr: »Ja, ich werde mit dir reisen, altes Papachen. Aber du wirst dann nicht immer trinken, wie? Männer, die immer betrunken sind, hasse ich. Sie ekeln mich.«
»Nie mehr werde ich trinken, wenn ich dich erst habe, keinen Tropfen mehr! Du bist besser als Wein und Schnaps; ein Feuer bist du in mir, du machst die Welt tanzen! Dein Wohl, meine Königin!«
»Dein Wohl, mein altes Papachen! Ja, wir werden nun reisen, aber werden wir auch Geld genug haben für solch eine weite Reise? Wir wollen doch nicht arbeiten müssen?«
»Geld?«, fragte ich verächtlich. »Geld? Geld genug für uns beide! Geld für alle Reisen und das längste Leben! Geld wie Heu!« Und ich riss die Scheine aus der Tasche, es war wirklich ein ganzes Bündel.
Elinor nahm es aus meinen Händen, glättete die Scheine und ordnete sie. »Achthundertdreiundsechzig Mark«, sagte sie schließlich und sah mich mit gerunzelter Stirne nachdenklich an. »Das ist nicht sehr viel Geld, altes Papachen. Nicht genug für eine lange Reise, für ein Leben zu zweien ohne Arbeit. Ist das alles Geld, das du hast?«
Einen Augenblick war ich etwas ernüchtert. Ich fuhr mit der Hand über die Stirn und sah voll Abneigung auf den Haufen schmutziger Lappen, den Elinor in der Hand hielt. »Einer hat mir Geld gestohlen, Elinor«, sagte ich dann mürrisch. »Fünfmal, zehnmal mehr Geld, als du in der Hand hast, hat der Lump mir gestohlen. Und alle meine Sachen in einem rindsledernen Koffer und unser Silber, alles ist weg! Was wird Magda sagen!« Ich besann mich langsam unter ihrem Blick. »Aber das ist gleich, Elinor, stecke das Geld fort, ich mag es nicht mehr sehen. Ich kann mehr holen von der Bank, ich kann holen, soviel du willst: Zehntausende! Ich komme mit einem Scheck, sie sagen zu mir: ›Herr Sommer …‹«
»Also Sommer heißt du?«
»Ja, Sommer heiße ich, Erwin Sommer, wenn du mit mir reist, hast du immer Sommer!«
Ich lachte, aber sie blieb ernst, sie sagte: »Siehst du, altes Papachen, sie haben dir schon dein Geld und deine Sachen gestohlen, du kannst nicht umgehen damit in diesem Zustand. Ich werde es dir verwahren, ganz sicher ist es bei mir aufgehoben. Hier stecke ich dir Geld in deine Tasche, das alte Papachen soll nicht ganz ohne Geld sein. Es sind dreiundzwanzig Mark, wenn die dir wegkommen, ist es nicht weiter schlimm …« Sie redete immer eindringlicher, es war lächerlich, wie wichtig sie dieses alberne Geld nahm. »Und, Papachen, nicht wahr, du schwörst es mir, du wirst nie jemandem sagen, dass ich dir dein Geld verwahrt habe? Zu keinem Menschen? Was auch passiert?«
»Nie werde ich es einem sagen, Elinor«, antwortete ich. »Ich schwöre es dir. Aber das alles ist unnötig, um sechs Uhr werden wir reisen …«
»Also du hast es mir geschworen, altes Papachen, du vergisst es nicht? Zu niemandem nie ein Wort, was auch passiert!«
»Nie ein Wort, Elinor!«
»Du mein gutes Papachen!«, rief sie und drückte mich fest in ihre Arme. »So – und nun sollst du zur Belohnung aus meinem Munde trinken dürfen!«
Sie nahm einen Mundvoll von dem Kirsch, dann legte sie die Lippen fest auf die meinen, ich schloss die Augen, und aus ihrem Munde floss der Kirsch scharf und warm und lebendig in meinen Mund – es war das Süßeste, das ich je erlebte. Ich verging davor.
Ich erwache, ich sehe um mich. Nein, ich bin nicht erwacht, noch träume ich. Was ich eben sah, war ein weißgekalkter Raum mit einem Eisengitter an seiner einen Seite – das ist noch etwas aus meinem Traum. Ich liege da, mit geschlossenen Augen, ich versuche, mich zu erinnern … Da geschah noch etwas in der Nacht. Dann besinnt sich meine linke Hand. Ganz unwillkürlich tastet sie auf dem Fußboden entlang, und nun trifft sie auf die kühle Glätte von Glas. Sie hebt die Flasche zum Munde, und nun trinke ich wieder, mit geschlossenen Augen trinke ich noch einmal Schwarzwälder Zwetschgenwasser, wieder bin ich bei Elinor. Ich bin bei Elinor! Das Leben geht weiter, ich schwinge mich noch höher … Ich habe nur eine Zeit geschlafen, und nun bin ich wieder bei Elinor.
Zwei, drei Schlucke, und nun ist die Flasche leer. Ich sauge an ihr: Kein Tropfen kommt mehr. Mit einem tiefen Seufzer stelle ich sie nieder und öffne wieder die Augen. Ich sehe eine weißgekalkte, recht schmutzige Zelle, die Wände von vielen Inschriften und schweinischen Zeichnungen zerkratzt. An der einen Wand sitzt sehr hoch, dort, wo sie schon schräg wird, ein kleines vergittertes Fenster. Dies Fenster steht offen, ich sehe durch die Öffnung einen blassblauen, von matter Sonne erfüllten Himmel. Auf der vierten Seite hat diese Zelle ein festes Gitter aus Eisenstangen. Genau wie die Gitter an den Tierkäfigen in den zoologischen Gärten. Außerhalb des Gitters steht ein Ofen, dann ist da noch eine Tür, die geschlossen ist. Ich bin gefangen! Ich sehe auf mein Lager. Ich liege in Kleidern auf einem jämmerlichen Eisenbett, auf einem Strohsack mit zerrissener Decke. Meine Zelle enthält sonst noch einen Tisch, einen Schemel und einen fürchterlich stinkenden Kübel. Ja, und dann enthält sie die Flasche, die ich soeben geleert habe …
Ich springe von meinem Lager auf, ich hebe die Flasche gegen das Licht: Wirklich, es ist kein Tropfen mehr drin! Ich stelle sie endgültig fort, hinter den Kübel, und während ich dies tue, kommt ein Stück der Erlebnisse dieser Nacht zurück, blitzartig erleuchtet …
Ich sehe die unordentliche, düster beleuchtete Gaststube, ich sehe mich, Erwin Sommer, Inhaber eines Landesproduktengeschäftes, angesehener Bürger von einundvierzig Jahren, ich sehe mich, wie ich mit dem Gendarmen handgemein bin, wie ich mich mit Händen und Krallen meiner Verhaftung widersetze – wir wälzen uns am Boden, und die behäbige Wirtin mit dem weißen Scheitel, die sich so vor meiner Schusswaffe geängstigt hat, die jetzt aber weiß, dass ich mit einer Schusswaffe nur geprahlt habe, sie versetzt mir während dieses Kampfes hinterlistige Tritte und Püffe, sie kneift mich und fährt plötzlich mit allen fünf Fingern in mein Gesicht, alles, während ich mit dem Gendarmen um meine Freiheit kämpfe.
Und im selben Augenblick während dieses Kampfes sehe ich Elinor, die mit einem unergründlichen Lächeln auf uns beide Kämpfende schaut, aber nicht einen Finger rührt, um dem einen oder anderen Kämpfenden zu helfen. Kein Wort auch spricht sie.
Und doch hätte ich mich vielleicht freigekämpft, denn in mir tobte ein Entsetzen, dass ich, ein gesitteter Bürger, wie irgendein beliebiger Betrüger in ein richtiges Gefängnis abgeführt werden sollte, ich, ein angesehener Mann, vor dem viele Leute zuerst den Hut zogen, ins Kittchen – ja, diese Verzweiflung gab mir solche Kräfte, dass ich mich wohl doch noch von dem Wachtmeister freigekämpft hätte – wenn nicht Elinor gewesen wäre.
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