Nachdem ich eine Weile bewegungslos so dagesessen hatte und immer wieder die gegen mich erhobene Anklage »Mordversuch an der eigenen Frau« qualvoll hin und her gewälzt hatte, legte der Wachtmeister aus meiner Vaterstadt, Herr Schulze, seine Hand auf meine Schulter und sagte, milde mahnend: »Wir müssen jetzt gehen, Sommer!«
»Sommer«, wie mich das anrührte, dieses einfache »Sommer« ohne »Herr«; so von einem ganz einfachen Mann mit einem Jahreseinkommen von kaum mehr als zweitausendvierhundert Mark angeredet zu werden, das machte mir die Veränderung meiner Lebensumstände aufs Deutlichste begreiflich. Seit ich aus der Lehre entlassen worden war, hatte mich noch kein Mensch ohne »Herr« angeredet, und nun … Ich nahm die Hände vom Gesicht und fragte, mit Tränen in den Augen: »Wohin bringen Sie mich, Herr Schulze?«
Ich betonte das »Herr«, aber er achtete nicht darauf, solch einfacher Mann hatte für so feine Schattierungen wohl kein Gefühl. »Nur zum Amtsgericht, Sommer«, sagte er. »Nur zum Amtsgericht.« Und er fuhr fort: »Sehen Sie, Sommer, Sie sind doch ein gebildeter Mann, Sie werden mir doch keine Schwierigkeiten machen? Ich müsste Sie wohl eigentlich an die Kette nehmen, aber wenn Sie mir versprechen, keine Schwierigkeiten zu machen …«
»Ich verspreche es Ihnen, Herr Schulze«, sagte ich eifrig und jetzt fast fröhlich. »Ich verspreche es Ihnen auf Ehre und Gewissen.«
»Schön«, antwortete er. »Ich will mich auf Sie verlassen. Ziehen Sie Ihren Mantel an, da liegt noch Ihr Hut, sonst haben Sie nichts? Also kommen Sie!«
Er ging mit mir aus der Zelle, wir stiegen eine Treppe hinunter und standen auf der Dorfstraße. Ich war erst ein paar Stunden in dem halbdunklen Gefängnis gewesen, und doch überwältigten mich schon Weite und Helle ringsum. Mein Herz klopfte schneller bei diesem Gruß der Freiheit.
›Wenn du jetzt‹, dachte ich schnell, ›über den Zaun dort springen und durch den buschigen Garten laufen würdest, über die Wiesen in den Wald hinein – ob Schulze sich wohl sehr viel Mühe geben würde, dich wieder einzufangen? Ob er gar hinter dir herschießen würde wie hinter einem richtigen Verbrecher? Ach nein‹, dachte ich mit einem schwachen Lächeln, ›das würde er nie tun. Wir haben doch öfter Skat miteinander gespielt, und er weiß, wer ich bin und was ich vorstelle. Aber ich will ihm ja gar nicht weglaufen‹, dachte ich schnell. ›Ich habe ihm versprochen, keine Schwierigkeiten zu machen, und ich bin ein Mann von Wort. Aber etwas anderes will ich von ihm …‹ Als Schulze vorhin davon gesprochen hatte, dass er mich zum Amtsgericht bringen müsste, war diese Möglichkeit hoffnungsvoll vor mir aufgetaucht. »Herr Schulze«, sagte ich sehr höflich, »ich habe eine Bitte an Sie …«
»Nun, was ist denn noch, Sommer?«, fragte er. »Gehe ich zu schnell? Wir können ruhig auch langsamer gehen, der Zug fährt erst in zwanzig Minuten.«
»Sehen Sie, Herr Schulze«, fing ich an. »Ich habe so furchtbare Zahnschmerzen, und da drüben sehe ich gerade einen Gasthof. Darf ich nicht schnell einmal hineingehen und einen Kognak oder Rum trinken? Das hilft mir sofort gegen die Zahnschmerzen. Sie können«, fuhr ich schnell fort, »ruhig neben mir an der Theke stehen, wenn Sie Angst haben, ich laufe Ihnen fort. Ich laufe Ihnen bestimmt nicht fort, es ist nur wegen meiner grässlichen Zahnschmerzen.«
»Das schlagen Sie sich nur ruhig aus dem Kopf!«, sagte der Wachtmeister bestimmt. »Da müsste ich ja wohl meinen Rock ausziehen, wenn bekannt würde, ich habe mit einem Gefangenen Schnaps an der Theke getrunken. Daraus wird nichts, Sommer.«
»Aber es kennt mich hier doch kein Mensch, Herr Schulze«, rief ich bittend. »Es kommt bestimmt nie heraus!«
»Da!«, rief der Wachtmeister und legte grüßend die Hand an den Tschako. Das Auto des Arztes, in dem neben Dr. Mansfeld der Staatsanwalt saß, war an uns vorübergefahren. »Wenn die beiden uns hätten in den Gasthof reingehen sehen, ich wäre schon ›drin‹ gewesen! Also, kommen Sie jetzt weiter, Sommer.«
»Herr Schulze«, sagte ich flehend und ging keinen Schritt von diesem Platz am Gasthof, meiner letzten Chance. »Nun ist aber wirklich kein Einziger mehr hier, der mich kennt. Tun Sie mir doch den Gefallen! Nur ein einziger Schnaps! Ich will meiner Frau auch sagen, sie soll Ihnen hundert Mark …«
»Nun wird es mir aber doch zu bunt!«, schrie der Wachtmeister und war rot vor Zorn. »Sind Sie denn ganz verrückt geworden, Sommer? Das ist ja eine Beamtenbestechung, die Sie da versucht haben! Das müsste ich ja eigentlich auf der Stelle anzeigen! Sofort kommen Sie jetzt mit, oder ich nehme Sie an die Kette!«
Völlig verschüchtert, gänzlich niedergeschmettert, der letzten Hoffnung beraubt, folgte ich dem aufgebrachten Herrn Schulze. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, er ärgerlich vor sich hin murmelnd, ich mit gesenktem Kopf und schleppenden Gliedern.
Dann sagte der Wachtmeister ruhiger: »Ich verstehe Sie nicht, Sommer. Sie waren sonst doch ein ganz ordentlicher, solider Mann, und nun machen Sie solche Zicken! Haben Sie denn noch immer nicht genug von der ollen Sauferei? Hat Sie die nicht schon weit genug ins Unglück gestürzt? Jedenfalls will ich Ihre Lage nicht noch schlimmer machen, als sie schon ist. Ich habe nichts gehört. Aber nun seien Sie auch ein Kerl, Sommer, und reißen Sie sich zusammen. In ein paar Tagen sind Sie aus dem Keller raus und haben wieder einen klaren Kopf, und dass Sie den gewaltig brauchen werden, das müssten Sie nach den Worten des Herrn Staatsanwaltes doch eigentlich wissen!«
Ich hörte mir das alles schweigend und ohne zu antworten an. Es demütigte und kränkte mich tief, dass ein so einfacher Mann wie der Wachtmeister Schulze es sich herausnehmen durfte, so mit mir zu reden. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass ich erst am Anfang eines langen Leidensweges stand und dass noch ganz andere und sehr viel tiefer stehende Menschen noch viel, viel deutlicher mit mir reden würden.
Wir waren auf dem Bahnhof angekommen, und Wachtmeister Schulze kaufte hier zwei Fahrkarten dritter Klasse für uns. »So«, sagte er dann und trat mit mir auf den Bahnsteig unter die dort wartenden Leute hinaus. »Und nun lassen Sie den Kopf nicht hängen, Sommer, sondern unterhalten Sie sich ruhig mit mir, dann merkt keiner was, sondern jeder denkt, wir sind gute Bekannte und haben uns ganz zufällig getroffen. Wir sind ja wohl auch schon daheim nach dem Skat miteinander die Breite Straße ein Stück lang gemeinsam gegangen, und Sie und keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass wir etwas anderes als Bekannte wären …«
Damit hatte er recht. Und da ich nun den Schreck über den abgeschlagenen Schnaps einigermaßen überwunden hatte, kam wirklich eine ganz vernünftige Unterhaltung zustande, erst über die eben einsetzende Heuernte, dann über die allgemeinen Ernteaussichten. Schulze und ich, wir waren beide der Ansicht, dass es im Allgemeinen nicht schlecht aussähe, jetzt aber müsse Regen kommen, das Frühjahr sei zu trocken gewesen, und besonders die Sommerung, 1aber auch die Hackfrüchte brauchten nötigst Feuchtigkeit.
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