Hetmanns Bericht wiederholt und erweitert Ludwigs Beobachtungen. Hetmann ist Dissident, leistet jedoch keinen wirklichen Widerstand. Er erhält die Genehmigung, im Westen zu veröffentlichen, und lebt unangefochten in der DDRDDR. Seine Gedanken kreisen um sein Ich, nicht um die gesellschaftliche Verfassung. Er will stark und verführerisch sein, will bewundert werden und findet seine schriftstellerische Arbeit besser als Amandas, deren „gespreizte Ausdrucksweise“ langweilig wirke. (162) Er glaubt, sie leide an Erfolglosigkeit und solle über seine „Schultern sehen“. Sein Egoismus ist deutlich in der Feststellung: „Immerhin, gab es ja auch ihn, und welcher junge Mensch, der zu schreiben anfängt, hatte schon das Privileg, in unmittelbarer Nähe eines leibhaftigen Schriftstellers zu leben.“ (178) Diese Feststellung wie auch alle Hinweise auf die persönliche Haltung, die politische und allgemeine gesellschaftliche Situation erweitern die Dokumentation unerfreulicher Ehen schließlich zu einer umfassenden Darstellung verfehlter Selbstentwicklung in der GegenwartGegenwart, die sowohl das Leben in der DDR als auch im wiedervereinten Deutschland kritisiert.
BeckerBecker, Jurek beschreibt das lustlose Vor-sich-Hinleben im quälenden AlltagAlltag gleichermaßen eindringlich in den Erzählungen Der Verdächtige und Allein mit dem Anderen . Die Geschichten betonen die Widersprüche im Leben und die Schwierigkeit, eine erkennbare oder vorstellbare Wahrheit festzustellen. Der Verdächtige erscheint als Einwohner der DDRDDR, der sich völlig von der Welt abschließt, um keinen Verdacht zu erregen. Er verfällt ins Schweigen, will dem Staatssicherheitsdienst nicht auffallen und so leben, dass er keinen Argwohn erregt. Nach einem Jahr kommt er zu der Überzeugung, dass nicht der ungerechtfertigte Verdacht und das Interesse des Staates ihn in die Isolation getrieben hätten, sondern er selbst: Es tut „nicht weh, beobachtet zu werden“, stellt er fest und beschließt, sein Leben unter Beobachtung fortzusetzen.7 Auch die Figur des Ich-Erzählers in Allein mit dem Anderen folgert nach quälenden Versuchen, dem Dasein Richtung zu geben, dass jedes wirkliche Handeln ihn um seine Stellung in der Gesellschaft bringt, aber jedes Nichthandeln zu Schuldgefühlen führt (211-226).
Christoph HeinHein, Christoph veranschaulicht eine vergleichbare Konstellation in Der Tangospieler (1989).8 Der Roman erfasst in der kurzen Zeitspanne von acht Monaten die Selbstanalyse des Historikers Hans-Peter Dallow und seine Versuche der Einordnung in die Gesellschaft. Die Handlung spielt von Februar bis September 1968, also zur Zeit des Einmarschs der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968, und die Darstellung enthält konkrete Hinweise auf die politische Lage der DDR und Gegenwartszitate. Vor diesem Hintergrund tritt der Wirklichkeitsanspruch des Romans scharf hervor in der nuancierten Veranschaulichung der Situation des Historikers, der nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen wird und vergeblich versucht, wieder Fuß zu fassen. Die Bewusstseinslage Dallows tritt in seiner Erfahrung menschlicher Beziehungen, äußerer Ereignisse und der politischen Situation hervor. Dallow versucht, Anschluss an alte Bekannte zu finden, will neue Freundschaften schließen, verstrickt sich in Liebesabenteuer, bemüht sich, eine Anstellung zu finden und will seine Gefängniszeit vergessen. Alle Versuche scheitern. Er lehnt ein Stellenangebot vom Staatssicherheitsdienst ab, kann aber selbst als Kraftfahrzeugfahrer nicht unterkommen. Er trifft auf seinen Verteidiger und Richter und lernt, dass sich beide bestens verstehen und den Staat loben, denn man „ist vorwärtsgekommen“: Inzwischen würde Dallow nur noch gerügt, aber nicht mehr verurteilt werden.
Der Gesamteindruck unterstreicht, dass das politische System die menschliche Verunsicherung erzeugt. Dallow ist nicht wirklich politisch engagiert, will nicht direkt vom Staat abhängig sein, ist aber bereit, sich anzupassen. Er ist jedoch nicht fähig, sich in der gegenwärtigen Situation zu entwickeln. Was er ständig erfährt, ist der Verlust der Orientierung und der Sinnstiftung im Dasein. Die Kritik ist gleichermaßen deutlich in allen Romanen von BeckerBecker, Jurek und HeinHein, Christoph und in zahlreichen Erzählungen, die das urteilslose, bequeme Vor-sich-Hinleben, die Verkümmerung der Liebe und die Unfähigkeit, aus der Selbstbezogenheit auszubrechen, thematisch erfassen.
Für die jüngste Generation ist der Blick zurück hauptsächlich ein Anliegen der Sichtung besonders markanter Tendenzen, die im Nationalsozialismus zu voller Entfaltung kamen und heute abermals, wenn auch in verwandelter Erscheinungsweise, erkennbar werden. Zur Diskussion stehen vereinzelte Exzesse radikaler Jugendlicher und die zuweilen im Ausland erhobene Beschuldigung eines im deutschen Volk ausgeprägten Antisemitismus. Niederschlag im literarischen Schaffen dagegen fand eine durchaus kontinuierliche Entwicklung künstlerisch zunehmend gelungener Gestaltungen der Vergangenheitsthematik,9 der existenziellen Situationexistenzielle Situation der Menschen in der GegenwartGegenwart und des Lebens im weltweiten, postmodernen Informationszeitalter. Im Gegensatz zu Politikern ist für die Autoren und Autorinnen auch die Europäische Gemeinschaft kein zentrales Problem; sie leben in Deutschland, einige in anderen europäischen Ländern, aber schreiben in der deutschen Sprache, knüpfen an die deutsche und gemeineuropäische Kulturtradition an und konzentrieren sich auf das Leben im AlltagAlltag, ohne große Entwürfe einer deutschen Nationalliteratur zu machen. Monika MaronsMaron, Monika Antwort auf die Frage, worüber sie denn schreiben wolle, nachdem sie nach Westdeutschland umgezogen war, ist für viele gültig:
Und was will die Frage von mir, ob ich nun, in meiner ‚neuen Heimat‘, über die Probleme des Westens schreiben wolle oder ob mir nun vielleicht der Stoff ausginge. Als hätte ich bislang über Känguruhs geforscht und nicht über Menschen geschrieben, und zwar deutsche, deren jüngste Vorgeschichte die aller Deutschen ist.10
2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen AlltagAlltag
Das ErzählverfahrenErzählverfahren, das alles, was im Leben der Figuren eigentlich ungewöhnlich erscheinen sollte, als alltäglich beschreibt, prägt die hier besprochenen Schilderungen. Sie thematisieren Kritik der gesellschaftlichen Verfassung und zugleich AnpassungAnpassung an die Situation, Unzufriedenheit, Unbehagen im prosaischen AlltagAlltag, Gefühllosigkeit, Orientierungsverlust und das immer wieder anklingende Bestreben einer möglichen Selbstentwicklung. Die allumfassenden Anliegen charakterisieren alltägliche Geschichten aus der DDR, der BRD, dem vereinten Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Die Ereignisse, die Bernd Willenbrock in Christoph HeinsHein, Christoph Willenbrock (2000) direkt betreffen, charakterisieren nicht nur seinen Ausschnitt aus einem scheinbar durchschnittlichen Lebenslauf, sondern erwecken zugleich den Eindruck einer zeitnahen Bestandsaufnahme. Willenbrock passt sich erfolgreich an die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse an; er verspürt keine Nostalgie und verlangt keine Abrechnung mit ehemaligen SED-Mitgliedern oder Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, selbst wenn diese, wie er jetzt weiß, ihm seine Arbeit erschwerten und Reisen ins Ausland verhinderten. Er betrachtet ironisch und distanziert das jüngste Zeitgeschehen. Er handelt mit Gebrauchtwagen, das Einkommen steigt ständig, das Unternehmen wird vergrößert, Bernd und sein Bekanntenkreis bejahen den Kapitalismus. Seine Ehe befriedigt ihn. Er findet jedoch, er müsse seinem Stand entsprechend auch erotische Erlebnisse haben. Seine Affären mit einer Angestellten, einer Hausfrau und einer Studentin hinterlassen in ihm das Gefühl, er habe ein von ihm erwartetes Soll erfüllt. Diese Schilderung unterstreicht den Eindruck der Anpassung an eine Konsumgesellschaft, in der alle vor sich hinleben. Heins Roman charakterisiert jedoch zugleich in scharfen Vignetten (Diebstähle im Autohof, Einbruch im Sommerhaus, interesselose Polizei und Steuerbehörde, teilnahmslose Krankenschwestern, jeder soll sich wie der Taxifahrer eine Waffe kaufen, Ausschnitte aus dem Leben des polnischen Mechanikers Jurek) die Entgleisungen der Gesellschaft.
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