Lukas Ohly
Kirche und Krisen
Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
Print-ISBN 978-3-89308-460-9
ePub-ISBN 978-3-89308-005-2
Für Emilia
Ein Jahr vor dem 500. Reformationsjubiläum saß ich auf einem Podium, um über den Vortrag eines Theologen zu diskutieren, der Martin Luthers Anliegen auf das 21. Jahrhundert übertragen wollte. Dabei hob er Äußerlichkeiten hervor, die Luthers theologisches Interesse so gut wie nicht berücksichtigten: Luther habe den populären Liedern seiner Zeit christliche Texte unterlegt; also müsse die evangelische Kirche auch heute die Kirchenmusik popularisieren. Ebenso habe Luther die Bibel nicht einfach in die deutsche Sprache übersetzt, sondern in die Umgangssprache der damaligen Bevölkerung. Daher müsse auch heute nicht nur die Bibel, sondern auch die christliche Botschaft in die Kultur- und Sprachgewohnheiten der Menschen umgesetzt werden.
Ein Jahr später hatte ich bei einer öffentlichen Frankfurter Veranstaltung den Segensroboter BlessU2 kennengelernt, den die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau zur Reformationsausstellung in Wittenberg entworfen hatte. Es ging um die Frage: Können Roboter segnen? Dabei meldeten sich etliche theologische Vertreter, die argumentierten, dass der Segen generell nur über Medien zum Ausdruck komme. Daher mache es keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Pfarrerin ihre Hände hebe und dabei Segensworte spreche oder ein Roboter.
Was haben beide Beispiele miteinander zu tun? Sie reduzieren theologische Fragestellungen auf Formalfragen. Die Bedeutung des Segens wird auf seine mediale Ausdrucksform zurückgeführt. Ebenso wird das theologische Wahrheitsanliegen Martin Luthers auf seinen geschickten Einsatz von Medien reduziert. Dahinter liegt offenbar die Vermutung, Sachfragen ließen sich auf die begründete Entscheidung für geeignete Formen verkürzen. Diese Vermutung wird vor allem dann verstärkt, wenn behauptet wird, es gebe keine isolierte Sache, die ohne eine für sie passende Form überhaupt bedacht werden könne. Denn dann folgt, dass ungeeignete Formen die Inhalte verzerren oder verändern können. Also ist die Frage nach den Formen selbst eine Sachfrage. Die Grenzen zwischen Form und Inhalt verschwimmen, aber so, dass der methodische Gang doch signifikant die Formen in den Blick nimmt und nur vermittelt über sie auch die Inhalte. Es scheint dann so, als seien die Inhalte das Vermittelte, die Formen dagegen das Unmittelbare, das eigentliche Phänomen, das zu bedenken ist.
Ich halte diese Wahrnehmung für eine Formalismuskrise. Sie besteht nicht darin, dass gewohnte Formen in eine Krise geraten, was ja durchaus auch in den obigen Beispielen behauptet wird. Dort war ja suggeriert, die traditionellen Kirchenlieder entsprächen nicht mehr der Intention Luthers und würden sich somit gegen die Reformation stellen. Ebenso sollte der Segensroboter einen Denkanstoß bieten, über welche Formen die evangelische Kirche, die als Institution gegenwärtig einen Vertrauensverlust erfährt, wieder zu den Menschen findet. Das ist jedoch nur eine Formkrise, mit der sich die entsprechenden kirchenleitenden Personen und die Theologie beschäftigen. Eine Formalismuskrise jedoch besteht darin, dass Sachprobleme pauschal als Formkrisen bearbeitet werden. Die Benennung von Formkrisen ist also das Symptom der Formalismuskrise.
Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, auf den der Formalismus nicht übergesprungen ist. Die Dominanz der Form macht sich durch einen technokratischen Umbau der Gesellschaft auch im Denken breit. Nicht erst die Digitalisierung erzeugt den starken Suggestionsschub, dass sich das menschliche Denken auf formelle Muster reduzieren lasse. Sie vollendet vielmehr ein Denken, das sich auf seine Formen durchsichtig macht, als gäbe es nichts darüber hinaus.
In diesem Büchlein untersuche ich zwar den Formalismus stets in theologischen Kontexten. Allerdings zeigen die drei Beispiele, die ich hier diskutiere, den gesellschaftlichen Bezug des Formalismus. Er schlägt sich in politischen und strategischen Entscheidungen von Organisationen ebenso nieder wie im Gebrauch von Technik. Dass der Formalismus auch in der Theologie angekommen ist, dürfte eher markieren, dass er auf die Spitze getrieben wird. Denn der Theologie als Reflexion des christlichen Glaubens ist es nie nur um die bloße Einübung und Wiederholung von Ritualen gegangen, sondern vor allem um das verstehende Erfassen der Wirklichkeit Gottes. Wenn es in der Welt kein Bild für Gott gibt, gibt es auch keine Formen für ihn. Folglich muss er für die Menschen anders zugänglich sein als alle anderen Gegenstände der Welt, bei denen man noch am ehesten vermuten könnte, dass ihnen verlässliche Formen zugrunde liegen.
Die Dominanz der Form unterschlägt den Außenbezug des Denkens, als gäbe es keine Sache, die zu denken ist. Schon der Theologe Karl Barth hat die „Sache“ vor den formellen Rekonstruktionen in der Theologie retten wollen. Adolf von Harnack hatte ihm daraufhin vorgeworfen zu übersehen, dass uns Jesus Christus nur über seine kirchengeschichtlichen Reminiszenzen zugänglich ist.1 Die Frage, die sich an diese Einsicht anschließt, heißt aber, ob sich theologisches Denken in der Rekonstruktion dieser Reminiszenzen erschöpft oder ob es dahinter zu einer Sache vorstoßen kann, die sich von der Form befreit: „Bis zu dem Punkt muss ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache , nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe.“2 Man könnte auch fragen, ob es im Formalismus überhaupt noch eine Sache gibt, auf die sich die Formen beziehen, oder ob sich die Funktion der Sache darin erschöpft, dass sie in den Formen ausgedrückt ist. Ist also Immanuel Kants „Ding an sich“ nur eine leere Konstruktion der Erkenntnis, so dass den Geisteswissenschaften nichts anderes übrig bleibt, als in intertextuellen Querverweisen lediglich formellen Sinn zu generieren?
Es gibt eine Lösung für diese Krise. Die Hauptthese dieses Buches besteht darin, dass der Formalismus in der Theologie von innen her aufgebrochen wird . Ich erinnere also an solche Quellen in der Theologie, die zwar die Bindung von Inhalten an ihre Formen zunächst akzeptieren, dann allerdings Brechungen darin aufdecken, die feste Formen verflüssigen, um sie an theologische Inhalte anzupassen. Denn gerade weil Gott kein Gegenstand der Welt ist und es daher anderer Zugangsweisen für die Gotteserkenntnis bedarf, müssen Formen überstiegen werden, von denen man ursprünglich ausgegangen ist. Dieser Ansatz ist ein Angebot, die Formalismuskrise zu überwinden – nicht nur innerhalb der Theologie.
Dazu verweise ich auf Autoren, die interdisziplinär gearbeitet haben. Zu ihnen gehören der Semiotiker Charles S. Peirce, die Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich sowie Ethiker der Gegenwart, die bei der Bearbeitung eines spezialethischen Problems an die Grenzen des Formalismus stoßen.
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