Horst S. Daemmrich - Vergangenheit

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Ein zentrales Thema in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 ist die Aufarbeitung und Deutung der Vergangenheit. Sie umfasst Beispiele erfolgreicher Sinnsuche ebenso wie Fälle katastrophalen Scheiterns und spiegelt in diesen unterschiedlichen, oft unvereinbaren Auslegungen unmittelbarer Erlebnisse und Erinnerungsdiskurse die Zerrissenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Literarische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit finden sich sowohl in novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike als auch in künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die repräsentativen Texte verdeutlichen eine Grundkonzeption, in der Erleben, Erinnern, Deuten und Gestalten der Vergangenheit den Gesichtskreis bestimmen.

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Horst Daemmrich

Vergangenheit

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de• info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0028-7

Vorwort

Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur vergegenwärtigt sowohl Anschlüsse an die literarische Tradition, erzähltechnische Neuansätze und postmoderne Erzählungen als auch stilistische Eigenheiten des sozialistischen, klinischen und magischen Realismus. Sie zeigt Eigenheiten, die einige Literaturkritiker davon überzeugten, von Literaturen im getrennten und wiedervereinigten Gesamtdeutschland zu sprechen. So kritisiert Fritz J. Raddatz die Konzentration der „westdeutschen“ Literatur auf subjektive Nuancen in der Figurengestaltung, die Ich-Suche und die Nichtbeachtung des politischen Horizonts. Im Gegensatz dazu findet er in den Schriften übergesiedelter DDR-Autoren und Autorinnen die bewusste Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen der Zeit: „Es gibt eine dritte deutsche Literatur. Nach Jahren, in denen von einer ‚zweiten deutschen Literatur‘ – also der DDR-Literatur – gesprochen und in denen die Abgrenzungen der beiden Literaturen wie ihre gegenseitige Durchdringung, auch Befruchtung diagnostiziert wurde, kann über den aktuellen Stand der literarischen Szene gesagt werden: Die zeitgenössische westdeutsche Literatur sieht den Menschen als genetischen Code, die Welt als ein System ohne Zukunft, die Kunst als Rätsel. Beide deutsche Literaturen bestimmen wesentlich Verkrochenheit, Ich-Bezogenheit und Aufarbeiten von Mythen und Träumen. Zwischen ihnen hat sich als besondere Kraft ‚eine dritte deutsche Literatur‘ etabliert – es ist die jener Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind … es sind Schriftsteller, die ihre historische Erfahrung, ihre politische Bildung und ihre moralische Interventionslust nicht als Gepäck an der Mauer abgegeben haben.“1

Der für das kommende Jahr geplante zweite Band erläutert maßgebende Themen und Motive in der thematisierten Gegenwart und Zukunft. Gemeinsam ermöglichen die Bände aufschlussreiche Einblicke in Texte, die sonst selten verglichen werden. Die Gegenüberstellung von einem Gartenhaus in der Schweiz (Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. 1989. 2001) und einem Tag in Berlin (Christa Wolf, Juninachmittag. 1967) erschließt thematische Entsprechungen. Geschichten aus dem Alltag akzentuieren in einer kunstvoll, feinfühlig psychologisch motivierten Schilderung die Leiden und Selbsterkenntnis einer Frau (Sibylle Knauss, Die Nacht mit Paul. 1994), eine medientechnologisch gleichgeschaltete Gesellschaft (Martin Grzimek, Die Beschattung. 1989), die innere Brüchigkeit in einer scheinbar heilen bürgerlichen Familie (Marlen Haushofer, Wir töten Stella. 1958. 1991), den absoluten Liebesverlust in einer dumpfen, erschreckenden Welt (Evelyn Grill, Wilma. 1994), die Flucht vor jeder möglichen Selbsterkenntinis (Peter Rosei, Von Hier nach Dort. 1978), und positive Sinnstiftungen in der Suche nach Orientierung (Jurek Becker, Bronsteins Kinder . 1986; Klaus Hoffer, Bei den Bieresch . 1983).

Die Darstellung verfolgt besonders folgende wiederkehrende Kontraste und Grundkonstellationen: Anpassung/Auflehnung, Liebe/Liebesverlust, politisches Engagement/Flucht ins Abseits, Jugend und Bejahung des Lebens/schwerdepressive Pyjamaexistenzen im Vorzimmer des Todes, in der Irrenanstalt und im Altersheim, Ich-Suche und Kontaktverlust, Ich-Suche und Selbsterkenntnis. Die Themenforschung beleuchtet Gemeinsamkeiten im Rahmen kompositorischer Differenzen. Die vorliegende Darstellung untersucht die thematisierte Vergangenheit und ist der erste Band der Bestandsaufnahme „Sechs Jahrzehnte. Grundkonzeptionen und wegweisende thematische Entwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unserer Zeit“.

Die vorliegende Untersuchung entwickelt, erweitert und vertieft Überlegungen, die ich zuerst in Konferenzbeiträgen, Festschriften und Sammelbänden vorgelegt habe.2 Ich danke meinen Kollegen Karl. F. Otto jr., Frank Trommler und Volker Wehdeking für ihre langjährige Unterstützung. Ich bin besonders Dr. Valeska Lembke für die sorgfältige Überarbeitung des Manuskripts dankbar.

1. Einführung

Die NS-Zeit ist eine Zäsur in der deutschen Geschichte, die auch die Literatur stark beeinflusst hat. Die Sicht auf die und der Umgang mit der Vergangenheit und besonders der NS-Vergangenheit, den Jahren des getrennten Deutschlands und des Mauerfalls wird zum wichtigen literarischen Thema. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit setzt sofort nach 1945 mit Kurzgeschichten, Erzählungen, Hörspielen und Schauspielen ein. Sie führt in die Gegenwart und besteht fort in der jüngsten Literatur, in Aufarbeitungen der DDR-Zeit, in Schilderungen des Mauerfalls und in Ortungen des durch ein vereintes Deutschland bedingten Mentalitätswandels. Die Auslegungen reichen von novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike bis zu künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die im Einzelnen besprochenen Texte, die sowohl allen Lesern und Leserinnen vertraute als auch unbekannte Werke einschließen, sollen die Diskussion vertiefen.

Im Umgang mit der Vergangenheit setzen nach 1945 die Autor(inn)en, besonders Ilse Aichinger, Jurek Becker, Heinrich Böll, Wolfgang Borchert, Willi Bredel und Elisabeth Langgässer, Akzente, die bis heute wirksam sind. Sie erneuern die in der Neuen Sachlichkeit ausgeprägte Tendenz, der realistisch-sachlichen Gestaltung von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Priorität einzuräumen. Darüber hinaus befragen und präzisieren sie eine in der Nachkriegsliteratur des Ersten Weltkrieges ersichtliche Grundform des Denkens, die sowohl ein Urteil über als auch ein Verhältnis zur Vergangenheit einschließt. Sie ist deutlich ausgeprägt in Werken, in denen die verflossenen Kriegsereignisse ihren Schatten über das Denken und Handeln der Figuren werfen. Sie kommt selbst dann unvermittelt zu Wort, wenn die Texte den Krieg keineswegs thematisieren. In der Erzählhaltung, im Denken der Figuren und in eingeflochtenen Reflexionen der Erzähler wird einerseits ein eindeutiges ethisches und politisches Engagement erkennbar. Andererseits zeichnen sich Tendenzen ab, die sowohl Resignation ausdrücken als auch die Ohnmacht angesichts historischer Abläufe, die sich dem Eingriff Einzelner entziehen.

Aichinger, Böll und Grass erweitern und vertiefen die Fragestellung von Schuld und Sühne. Wiederkehrende, aus wechselnder Perspektive entwickelte Motive und Themen, die zuweilen Vorstellungen aus den Entnazifizierungsprozessen übernehmen, erwecken den Eindruck einer umfassenden Bestandsaufnahme. Die Texte schildern Täter und Opfer, willige Helfer und Mitläufer, Anpassung und aktiven oder inneren Widerstand, aber auch Pflichterfüllung und verfehltes Vertrauen auf eine neue Ordnung. Die Gemeinsamkeiten und gravierenden Unterschiede in der Einstellung zur Schuldfrage verleihen der Literatur einzelne scharf profilierte Züge. In der erzählenden Literatur herrschen zuerst Anklage und Richten vor, später Aufarbeitung und Versuche, die Einstellung und das Verhalten Einzelner oder einer Gruppe zu verstehen. In der militärischen Erinnerungsliteratur setzt sich sofort die Berufung auf den Ausnahmezustand und die mit ihm verbundenen Fragen von Pflichterfüllung und dem kriegsbedingten Handeln Einzelner durch.

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