Die Lebensgeschichte des Vaters ist gleichermaßen abenteuerlich. Beim Einzug ins Altersheim stellt er fest, dass Berger ein alter Freund ist. Ihre Reminiszenzen kreisen um die Vorkriegs- und Kriegsjahre, in denen sie für den Schweizer Geheimdienst tätig waren. Der scheinbar solide kleinbürgerliche Vater entpuppt sich als Leiter eines wichtigen Büros des Sicherheitsdienstes. Berger und Lüscher plaudern gesellig von allerlei möglichen und undenkbaren Ereignissen, die in die Kindheit Kunos fallen. Begegnung und Freundschaft mit Hitler, Schweizer Generäle, die Ermordung der Mutter, Verstellung, Intrige, heimliche Treffen und Pläne jeder Art überkreuzen sich in dem plötzlich schicksalhaft anmutenden Dasein der Biedermänner. Die erzählte VergangenheitVergangenheit wirkt so phantastisch und erheiternd, dass die sicherlich ernstzunehmenden Anspielungen auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund treten.
Der Bericht der pikaresken Abenteuer Willys konturiert die Lebensfahrt Kunos. Kuno glaubt, sie seien „unzertrennlich“. Er verehrt seinen „besten“ Freund, ist gutmütig, vertrauensvoll und glaubt alles, was ihm erzählt wird. Er hat und behält ein kindliches Gemüt. Willy ist der schlaue Picaro, der seinen Freund immer im Stich lässt, bereits als Junge seine Umwelt durchschaut, immer seinen Vorteil wahrt, mit Kunos Freundin Sophie in den Kongo verschwindet, im Zuge seiner AnpassungAnpassung an die Welt völlig schwarz wird, eine schwarze Tochter hat, sich zum gerissenen Geschäftsmann und Stammesfürsten entwickelt, das ganze Land mit Osterbock beliefert und am Ende durch einen Trick das gesamte Stammhaus der Schweizer Anselm-Brauerei in seinen Besitz bringt.
Das geschilderte Milieu, der ungezwungene PlaudertonPlauderton, in dem sich der Erzähler mit seinem Publikum unterhält („ein sonst cooler Jüngling, wir outen uns, die Lastwagen wurde geentert“), die erheiternde Mischung von puerilen und pubertären Träumen mit Wunschvorstellungen alternder Menschen (der Vater hat sofort eine Affäre mit Cindy, einer amerikanischen Studentin), das Brechen aller gesellschaftlichen Tabus und die deutlich bemerkbare Lust am Fabulieren verleihen dem Roman eine selten erreichte plastisch anmutende Realität des Seins im fiktiven Schein. Die Verwandlung in Phantasiefiguren ist nicht nur im Urwald denkbar. Kuno macht auf dem Rückflug nach Zürich eine Spesenabrechnung und geht zur Toilette. „Als ich die Hände wusch und in den Spiegel schaute, sah ich, daß ich einen weißen Vollbart hatte. Kraushaare. Und daß mein Gesicht tiefschwarz war.“ (174) Im Altersheim erfährt er, dass seine Abenteuer und MetamorphosenMetamorphose innerhalb einer knappen Woche stattfanden. Die ausgesprochen positive Bejahung der menschlichen Entwicklung in den Widersprüchen des Daseins gibt der Darstellung die Dimension eines faustischen Abenteuers, das in dieser besonderen Form nur von Joseph Conrad und Saul Bellow in Henderson the Rain King (1958) entworfen wurde.
Wie sieht die Welt vor der bevorstehenden Jahrtausendschwelle aus? WidmerWidmer, Urs geht auf die Frage in einundzwanzig kurzen Geschichten ein. Mehrere in Vor uns die Sintflut (1998) stehen unter dem Vorzeichen der von Ernst Jandl und Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Hugo Ball und Hans Arp in ihrer Lyrik und ihren Geschichten verwerteten kunstvollen Verknüpfung von ZeitkritikZeitkritik, Humor und Spielerei. Das Trauma unserer Zeit – Orientierungsverlust, menschliche VereinsamungVereinsamung, gestörte Verhältnisse, Erinnerungen an Kriege, die Bombe von Hiroshima, die Fülle vorbeifliegender Nachrichten und Bilder – redet in allen Geschichten mit. Außerirdische experimentieren mit verängstigten Menschen; Fernseher und Computer beobachten die ahnungslos Dasitzenden; einige erstarren in Gedanken an all die bevorstehenden Ungeheuerlichkeiten, und mancher hat schon im Geist seine Arche bereit, um der erwarteten Flut zu entkommen. Alles Denk- und Undenkbare trifft ein. „Nichts, was denkbar ist, geschieht nicht; zudem oft das Ungedachte. Die Wirklichkeit läßt keine Ungeheuerlichkeit aus. Die Phantasie ist längst eine kleine, sorgsame Anarchistin geworden, die in den verkrusteten Falten des Gedächtnisses herumkramt und Dinge zutage fördert, die kein Mensch mehr für möglich hält.“15 All dessen ungeachtet hat Widmer eine lebensbejahende Antwort für seine verstörten Zeitgenossen. Die Tür zum Paradies steht jedem im Getöse der Großstadt, am und im Inneren des Gotthard, auf dem Dorf und im Kaukasus offen. Die Voraussetzung, sie zu finden, ist die Freude am Leben. Jeder soll sich aufraffen, gerne zu leben: „Sogar angesichts unserer Welt.“ (145)
Martin WalsersWalser, Martin Kommentar zur Frage der Orientierung in der Gesellschaft, der Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und Identitätskrise ist aufschlussreich für seine Haltung als Erzähler. Er betont die Unmöglichkeit, das eigene Ich zu erfassen. „Auf sich selbst kann man sich nicht konzentrieren. Ich – das wäre die reine Grundlosigkeit. Da würde man aus der Schulstunde heraus in eine tönende Unausdrückbarkeit versinken.“16 Wolfgang Hildesheimer äußert ähnliche Zweifel. Er stellt fest: „Ich habe meine Identität verloren uns mache mich auf die Suche nach meinem Ich. Schließlich finde ich einen ganzen Haufen von Ichs. Welches aber ist das meine? Mir dämmert Furchtbares: ICH BIN NICHT EINMALIG!“17
Das „Vorwort als Nachwort“ in WalsersWalser, Martin Springender Brunnen 18 befestigt die Erzählung bewusst eindeutig mit Hinweisen auf und Erklärungen von Spracheigenheiten im dörflichen deutschen Sprachraum. Sowohl den Familienromanen von KempowskiKempowski, Walter und Wackwitz als auch den Erinnerungsdiskursen von GrassGrass, Günter, MaronMaron, Monika und OrtheilOrtheil, Hanns-Josef vergleichbar, beleuchtet die Handlung einen Ausschnitt aus der deutschen Geschichte. Der Erzähler berichtet aus der Perspektive der Geschäftsleute, die Gastwirtschaften führen und Kohlenhandel betreiben oder dem Obsthandel nachgehen und sich durch Grundstücksankäufe wirtschaftlich verbessern wollen. Die Zeit von der Weltwirtschaftskrise bis zu den Nachkriegsjahren erscheint im Spiegel der Auswirkungen auf das Kleinbürgertum. Der Roman thematisiert jedoch nicht nur die Haltung der Menschen zu den Ereignissen, sondern auch in der Bewusstseinsbildung der zentralen Figur Johann dessen Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und wachsende Erkenntnisfähigkeit. Darüber hinaus ermöglichen Johanns Versuche, seinen zurückliegenden Eindrücken eine feste Kontur zu geben, einen fortgesetzten Diskurs über die Frage, inwiefern das Vergangene durch eine Niederschrift greifbar wird und gegenwärtig sein kann. Die Einsicht, dass jedes gestaltende Schreiben zugleich eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Hoffnungen, Wünschen und Träumen ist, gibt dem Roman seinen Titel: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“ (405) Die Reflexionen belegen, dass Walser deutlich die Schwächen einer Erinnerungsliteratur erkennt, die durch größte Konzentration auf Details den Eindruck authentischer Wiedergabe erwecken will. Er zeigt dagegen in der Entwicklung Johanns, wie sich Personen ändern und die VergangenheitVergangenheit ihren neu gewonnenen Ansichten entsprechend umgestalten.
Die manchmal wuchernden Einzelheiten in Schilderungen der Landschaft, des alltäglichen Lebens und der Eindrücke Johanns sind konsequent bezogen auf den Ansatz, dem historischen Geschehen Sinn abzuringen. Das gelingt in der Gestaltung der Auswirkung des großen Hergangs auf die kleine Welt. Der Erzähler trifft den Nerv der dörflich kleinstädtischen Gemeinschaft am Bodensee in Gegensätzen und Übereinstimmungen, im Bestreben, der Wirtschaftskrise zu entkommen, in der Veränderung in der Einstellung zur Tagespolitik und zum Krieg. Besonders aufschlussreich sind die Einblicke in die Gefährdung der Menschen durch Handeln und Unterlassungen in den von den ökonomischen und politischen Ereignissen ausgelösten Lebenskrisen. Zugleich erfassen einzelne Aussagen und Reaktionen typische Verhaltensweisen. In ihnen kommen Grundwidersprüche der europäischen Welt und der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung zu Wort. Der Rückgriff auf die VergangenheitVergangenheit, in der Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg, aus der Wirtschaftskrise, aus den Jahren der Machtübernahme und des Zweiten Weltkriegs das Blickfeld der Betroffenen beherrschen, ermöglicht die Darstellung einer umfassenden Palette unterschiedlicher Gesinnungen.
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