Angesichts der Art und Weise, wie der moderne Mensch mit dieser Erde umgeht, kann man wohl behaupten, dass er nicht so integriert und deshalb nicht so lebendig ist wie unsere Vorfahren. Wir neigen zu einer sehr viel stärkeren Innenlenkung. Wir sind sehr viel weniger auf die Erde eingestimmt und haben oft den Kontakt zu unserer unmittelbaren körperlichen Erfahrung verloren. Das Ergebnis ist, dass wir weniger fähig sind, die Sprache unseres Körpers in Aktion zu übertragen. Man könnte auch behaupten, dass unsere Vorfahren bessere Gehirne hatten als wir. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass körperliche Anstrengung in der Tat einen neurologischen Zustand erzeugt, der „angereicherte Umgebung“ 3genannt wird. Die Wildnis zwang unsere Vorfahren dazu, körperlich aktiver zu sein, und das Gehirn reagiert auf körperliche Anstrengung durch die Bildung einer größeren Anzahl von Nervenzellen, was zu einem größeren Gehirn führt. Das Gehirn benutzt diese neuen Zellen, um den Cortex auszubauen, die Synapsen zu stärken und mehr Verzweigungen zu bilden, sodass wir unser Potenzial verwirklichen können. In der Wildnis war ein entwickeltes Gehirn notwendig. Man braucht schon eine Menge Gehirnstrukturen, um die kinetische Intelligenz und die mentale Zähigkeit entwickeln zu können, mit denen man einen Hirsch zur Strecke bringen kann.
Es sieht ganz so aus, als wollten wir moderne Menschen zu bestimmten Zeiten gar nicht in unserem Körper sein. Wir sind sehr viel stärker innengelenkt und neigen dazu, uns mehr auf unseren Kopf als auf unser Herz zu verlassen, mehr auf Logik und Rationalität als auf unsere Intuition. Wir versuchen eher, die Dinge zu verstehen, als uns mithilfe unserer Gefühle zu orientieren. Wir führen ein hoch strukturiertes Leben und ziehen Vorhersagbarkeit der Spontaneität vor. Das kann zur Folge haben, dass ein Mensch den Kontakt zur konkreten Realität verliert und nicht mehr geerdet ist. Wir neigen dazu, unser Leben weniger im Augenblick zu leben, weniger in unserer direkten Erfahrung, und dafür immer mehr in unserem Denken, sodass wir schließlich nicht mehr fähig sind, die vom Körper erzeugten Gefühlszustände zu entschlüsseln. Das kann uns unentschlossen, pedantisch, eindimensional und sogar verrückt machen. Manchmal fühlen wir uns deshalb der Außenwelt entfremdet, ohne ein Gefühl für das zu haben, was wir sind und warum wir hier sind.
Die Tatsache, dass das Menschenwesen über die Wildnis hinausgewachsen ist, bedeutet nicht, dass wir das Vermögen, ein stärker integriertes Leben zu führen, verloren haben. Ein Spaziergang in der Natur ist genug, um das starke Herz und den starken Geist unserer Vorfahren wieder zu erwecken – wenn wir mit Gewahrsein gehen. Alles, was dazu nötig ist, ist, unseren Geist zu beruhigen, unserem Atem zu folgen, den Boden unter unseren Füßen und den Wind auf unserer Haut zu spüren, den Vögeln, dem Rascheln der Blätter und dem Glucksen des Wassers zu lauschen und die Insekten zu beobachten, während wir mit unseren Fingerspitzen durch das hohe Gras fahren. An einem bestimmten Punkt fangen Innen und Außen an, miteinander zu verschmelzen. Körper und Geist beginnen sich zu umschlingen wie Liebende. Unsere Schwierigkeiten beginnen sich aufzulösen und zur natürlichen Ordnung der Dinge zu werden. Unser Geist lässt ab von dem Verlangen, jedes spezifische Problem unbedingt verstehen zu wollen, und beginnt sich in ein tieferes Verständnis des Lebens einzufühlen. Dies ist der Prozess, durch den bloße Rezeptivität zu Kreativität wird, durch den Hören zu Zuhören wird, durch den Sinneswahrnehmung zu Sensibilität und Verständnis zu Mitgefühl wird – und durch den das alles zusammen zu Liebe wird. Vielleicht spüren wir sogar, wie die Spontaneität unseres wilden Herzens wiedererwacht und wir bereit sind, das Risiko einzugehen, es mit etwas Neuem zu versuchen, das unser Leben ändern könnte.
Die Mohikaner, Hopi, Sioux, Huichol und andere Indianerstämme – wenn nicht gar alle Eingeborenenkulturen – haben schon lange begriffen, dass unsere primitive Natur in Harmonie mit unserem höheren Geist arbeitet, um eine Intelligenz zu erzeugen, die sich, zu bestimmten Zeiten, mystisch anfühlt. Sie entspringt einer inneren Größe, welche die natürliche Größe, die uns umgibt, durchdringt. Auch Albert Einstein verstand dies. „Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können“, schrieb er, „ist die Empfindung des Mystischen. Es ist die Quelle aller wahren Wissenschaft.“ Es scheint klar zu sein, dass der primitive Geist die Grundlage dieser Erfahrung darstellt, die Neurowissenschaft beginnt heute, Beweise dafür zu finden. „Primitive Gehirnstrukturen“, sagte der führende Kognitionswissenschaftler des MIT, „könnten die Maschine sein, die selbst unsere fortgeschrittenen intelligenten Lernfähigkeiten auf höchster Ebene antreiben.“ 4
Die Intelligenz des Bauchgefühls
Intuition ist eine der wesentlichen Formen der Intelligenz; sie wird von den drei Göttern der Neurologie gemeinsam hervorgebracht. Neurologisch gesehen ist Intuition Information, die dem Körper entspringt und von dort zum Präfrontalen Cortex aufsteigt. Der Präfrontale Cortex ist der entscheidende Teil für die höheren Gehirnfunktionen und der Punkt, an dem das primitive Gehirn, das emotionale Gehirn und der Neocortex zusammenkommen. In einer fließenden Bewegung bemerken wir eine Empfindung in unserem Bauch, fühlen und interpretieren wir innerlich, was wir empfinden, korrelieren wir das, was es uns sagt, mit dem, was wir aus Erinnerung wissen, filtern wir Entscheidungsmöglichkeiten mithilfe moralischer Werte und handeln dann aus dem heraus, was sich richtig anfühlt.
„Gefühle verschaffen uns einen Einblick in das, was in unserem Fleisch geschieht“, schrieb Dr. Antonio Damasio. 5Nach seiner Theorie der somatischen Zustände ist die Fähigkeit des Gehirns, Empfindungen zu registrieren, die aus dem Bauch aufsteigen, entscheidend für das, was Adaptive Entscheidungsfindung genannt wird. Neuronen im Bauch scheinen uns drohende Gefahr oder Bestrafung oder ein drohendes Risiko zu signalisieren, oder auch das Gegenteil – die Erwartung von Belohnung. Intuition ist dann besonders wertvoll, wenn wir in einer Situation der Unsicherheit schnell eine Entscheidung treffen müssen. Wenn ein Geschäftführer keine Daten vorliegen hat, auf die er zurückgreifen könnte, entscheidet für ihn das Gefühl. Das Gefühl ist es auch, was einen Börsenmakler zu einer Entscheidung gegen die Wahrscheinlichkeit treibt. Eine Frau entscheidet nach dem Gefühl, ob sie den Absichten eines Verehrers trauen kann. Und ein Polizist fühlt, ob jemand lügt, mit verdeckten Karten spielt oder gar potenziell gefährlich ist. Es ist dasselbe bei einer Mutter, die ihr Kind durch und durch kennt: Sie erkennt die kleinsten Änderungen in der Stimme, der Stimmung und der Körpersprache. Der Dichter findet intuitiv genau die Zeile oder das Wort, das ein Gedicht vervollständigt. Und ein guter Arzt durchschaut intuitiv komplexe und einander manchmal widersprechende Fakten und kommt zu der richtigen Diagnose.
Wir nennen es Bauchgefühl, und wer die noetische Kunst des Hörens auf seine Intuition kultiviert hat, gewinnt eine Weisheit, zu der der Intellekt allein nicht gelangen kann. Einige der größten Fehler, die wir im Leben machen, passieren, weil wir nicht auf unser Bauchgefühl hören. Der Bauch ist auch der Ort, an dem wir Mut finden oder verlieren und wo wir den Nervenkitzel des Gewinnens spüren, wenn zum Beispiel ein Basketballspieler den entscheidenden Ball versenkt, oder wo wir den Schmerz des Verlierens empfinden, wenn der Wurf daneben geht.
Die Intelligenz des Herzens
Ein anderer Teil des Drachen, der seinen Beitrag zu einer ergiebigen und einzigartigen Form der Intelligenz leistet, ist das Herz. „Die Idee, dass wir mit unserem Herzen denken können“, sagte Joseph Chilton Pearce, „ist längst keine bloße Metapher mehr, sondern ist die Konstatierung eines ganz realen Phänomens.“ 6Das Herz besitzt, genauso wie der Bauch, seine eigene Gehirnstruktur. Es enthält eine große Anzahl von Nervenzellen, die mit jenen im Gehirn identisch sind. Die Hälfte dieser Neuronen scheint dazu zu dienen, eine direkte neuronale Verbindung zum emotionalen Gehirn herzustellen und eine dauernde Kommunikation zwischen beiden zu ermöglichen. Diese Kommunikation erlaubt es uns, unsere Gefühle zu erfahren, sie auszudrücken und nach ihnen zu handeln. 7„Das emotionale Gehirn bewertet unsere Erfahrung der Welt qualitativ“, sagte Pearce, „und es sendet diese Information von Moment zu Moment hinab zum Herzen. Umgekehrt ermahnt das Herz das Gehirn, eine angemessene Antwort zu finden.“ 8Doch wir denken nur selten, dass ein offenes Herz ein Werkzeug zum Sammeln von Information ist, welche unsere Intelligenz vergrößert.
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