Der moderne Mensch hat sich immer mehr auf seinen Intellekt verlassen und neigt dazu, primitive Impulse zu verdrängen – und das nicht ohne Grund. Diese Impulse können uns nämlich in große Schwierigkeiten bringen. Wenn der Drache die Kontrolle über das menschliche Verhalten übernimmt, lässt er uns höchst territorial werden und allein auf das Überleben ausgerichtet. Er kann uns auch wild und primitiv werden lassen. Wenn eine militärische Einheit sinnlos wehrlose Menschen massakriert, so ist es wahrscheinlich, dass der Geist der Soldaten aufgrund von Furcht, Erschöpfung und Trauma die Gehirnfunktion so weit zurückentwickelt hat, dass primitive Instinkte die Kontrolle übernommen haben. Um zu überleben, tötet der Instinkt, ohne darüber nachzudenken. Es ist offensichtlich, dass wir es nicht gut fänden, wenn die primitive menschliche Natur im Weißen Haus säße und den Finger auf dem roten Knopf hätte. Der Verstand misstraut der primitiven Leidenschaft, weshalb die Mütter über Jahrhunderte in vielen Kulturen das Liebeswerben bei ihren Kindern beaufsichtigten. Aus demselben Grund knurrt ein Vater den gut aussehenden heißblütigen Burschen mit dem schicken Auto an, wenn dieser an der Tür klingelt, um seine Tochter abzuholen. Auch im täglichen Leben kann uns das primitive Gehirn impulsiv und übereilt reagieren lassen. Eine konservative, gut geführte Bank würde unserer primitiven Natur keine Kreditkarte ausstellen. Die Notwendigkeit gewisser Einschränkungen durch den Intellekt ist verständlich. Die Gesetzgebung, die Strafverfolgung und die Anstandsregeln sind Versuche Apollos, das wilde Tier zu zähmen. Indem wir das Primitive gezähmt haben, sind wir moderne Menschen zu der Ansicht gelangt, dass dieser Teil von uns krude ist und primitive Kulturen unterentwickelt sind. Wir neigen dazu, Botschaften aus dem primitiven Gehirn abzutun als etwas, das allzu unzuverlässig und unglaubwürdig ist, um intelligent sein zu können.
In Wirklichkeit waren unser Körper und unser Geist nie mehr in Einklang miteinander als zu der Zeit, da wir noch Primitive waren; sie waren nie mehr in Harmonie mit unserer unmittelbaren Erfahrung, nie mehr in Berührung mit dem Heiligen. Wir können eine enorme Menge an persönlicher Kraft zurückgewinnen, wenn wir unsere Rationalität dazu überreden können, mit mehr Respekt auf die Information unseres primitiven Gehirns zu hören, die dieses uns durch unseren Körper zukommen lässt. Ihm wohnt tatsächlich Genie inne.
Der Film Der letzte der Mohikaner stellt die Macht der Primitivität sehr eindringlich dar. In der ersten Szene, die ich hier nach dem Drehbuch nacherzähle, hören wir den Wald, den Ruf einiger Vögel in der Ferne und ein Rascheln, das näher kommt und lauter wird. Plötzlich schnellt ein mit einem Mokassin bekleideter Fuß durch das Bild. Es ist ein Indianer, der schnell läuft, und wir hören seinen Atem schwer, aber regelmäßig, gehen. Es ist ein junger Mann, tätowiert und mit kahl geschorenem Kopf. Dies ist Uncas, der letzte der Mohikaner. In einer Hand trägt er ein Steinschlossgewehr. Sein Baumwollhemd ist in der Taille über seinem Lendenschurz von einem Wampumgürtel mit kleinen weißen Perlen zusammengerafft. Ein Tomahawk mit langem Stiel steckt in seinem Gürtel.
Schnitt, und wir sehen einen anderen Teil des Waldes, wo ein Mann mit einer schweren Kriegskeule in der Hand durch das Unterholz läuft. Er hat eine massivere Statur und ist älter. Über seiner linken Augenbraue sehen wir eine eintätowierte Schlange. Dies ist Chingachgook, Uncas’ Patenonkel. Während er läuft, knickt er keine Halme um oder bricht Zweige ab; er macht keinerlei Geräusche, während er parallel zu Uncas durch den Wald läuft. Sie laufen durch die Kathedrale des Waldes mit den hoch aufragenden Bäumen, über Bäche, Felsen, umgestürzte Bäume, hinab in eine Schlucht.
Erneuter Schnitt zu einem anderen Teil des Waldes, wo ein Mann mit langem schwarzem Haar pfeilschnell durch den Wald schießt. In seiner Rechten trägt er ein Gewehr mit langem Lauf. Dies ist Nathaniel Poe, der weiße Mann, den die Irokesen Hawkeye genannt haben. Er rennt durch das Unterholz und hält plötzlich inne. In etwa 200 Meter Entfernung sehen wir die Farben eines Tiers durch die dichten Blätter schimmern. Hawkeye hebt das Gewehr an die Schulter. Es gibt einen lauten Klick, als Hawkeye das Gewehrschloss mit dem Stück Feuerstein spannt. Bei diesem Geräusch erstarren Uncas und Chingachgook mit einem Mal in ihrem Lauf. Hawkeye schießt und beim Geräusch des Schusses springt der große Hirsch nach vorn – genau in die vorauskalkulierte Schussbahn, wo er von dem Projektil niedergestreckt wird. Bevor Chingachgook das Tier ausweidet, kniet er nieder und betet: Es tut uns leid, dass wir dich töten mussten, Bruder. Vergib uns. Ich ehre deinen Mut und deine Geschwindigkeit und deine Kraft. 2
Das Ganze ist ein Bild von Männern, die mit ihrer Umgebung und miteinander eins sind sowie mit ihrem Ziel, die lebensnotwendige Nahrung für ihr Volk zu beschaffen. Es ist, als wären die Männer, die Landschaft und das Tier Teile eines Körpers, der sich in einem fließenden Ablauf vorwärtsbewegt durch die Zeit, die immer Hier und Jetzt ist. Das primitive Gehirn ist im Wesentlichen außengelenkt. Es lebt in der äußeren Welt, fokussiert den Geist auf den gegenwärtigen Augenblick und benutzt den Körper, um die Welt zu lesen und darauf zu reagieren. Tiere sind vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, außengelenkt. Sie reagieren augenblicklich auf visuelle, auditive und taktile Reize aus der Umgebung. In der Wildnis hält das primitive Gehirn die Aufmerksamkeit fest auf das gerichtet, was da draußen geschieht.
Der Film illustriert ebenfalls den kreativen, weitgehend innengelenkten Geist, den das höhere Gehirn hervorbringt. Er manifestiert sich in den Gerätschaften, die die Männer bei sich tragen, in ihrer Kleidung, in der Selbstdarstellung durch ihre Tätowierungen, die geschorenen Köpfe, der Perlenstickerei sowie in dem Gebet, das Chingachgook neben dem niedergestreckten Hirsch spricht. Die Einzigartigkeit der Menschen zeigt sich darin, dass sie, anders als die Tiere, gleichzeitig sowohl innengelenkt als auch außengelenkt sein können. Die Sinnesinformationen, die vom primitiven Gehirn vermittels des Körpers gesammelt werden, werden in einen anderen Teil des Gehirns weitergeleitet, wo sie in die Sprache der Emotionen übertragen werden. Dies ist der Teil von uns, der das, was im Augenblick geschieht, sieht, riecht, hört und registriert und dann bestimmt, welche Gefühle wir mit dem, was wir wahrnehmen, verbinden. Die sensorischen und emotionalen Daten passieren dann das höhere Gehirn, wo sie mit früheren Informationen, Erinnerungen und angesammeltem Wissen abgeglichen werden. Sinneswahrnehmung, Gefühl und Verstand stehen nicht im Widerstreit; sie sind aufeinander eingestimmt und erzeugen eine Resonanz, wie es sie zwischen den drei Kriegern gab, und sie bringen so das der Situation angemessene Verhalten hervor.
Dies ist der Weg des Kriegers. Es ist auch der Weg der großen Führer, die in der Lage sind, Kohärenz in ihre innere und äußere Erfahrung zu bringen. Sie achten auf die äußere Situation, sie lesen die Äußerungen und Absichten der Menschen und sie fühlen die Atmosphäre im Raum. Sie spüren die emotionale Resonanz oder Dissonanz, die vorhanden ist. Sie interpretieren ihre eigene gefühlsmäßige Reaktion zutreffend und wissen damit umzugehen. Wenn alles wie von einer Linse gebündelt zusammenkommt, dann formulieren sie eine Antwort, welche hilft, die vorliegende Situation in einem größeren Kontext zu begreifen. Ein guter Lehrer, Menschenführer oder ein gutes Elternteil, sie alle zeichnen sich durch dieselbe integrierte Daseinsweise aus. Sie ist es, die einen Makler an der Börse erfolgreich macht oder eine Ehe gelingen lässt.
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