1 ...6 7 8 10 11 12 ...26 Ich sah sie mir daraufhin genauer an, und erst jetzt erkannte ich in ihr das zwölfjährige hagere Mädchen mit der Akne und der Zahnspange wieder. Ihr Vater hatte Marihuana und Ecstasy von Zuhause aus vertickt. Dann kamen irgendwann zwei Dreckskerle auf die glorreiche Idee, ihn auszurauben. Er wehrte sich, wurde angeschossen und verblutete schließlich vor den Augen seiner Familie auf dem Küchenboden. Das Ganze war jetzt zehn Jahre her … damals, als ich noch der absolute Überflieger gewesen war.
»Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie hatten eine Mutter und eine ältere Schwester. Wie geht es den beiden?« Anna sah hastig weg und ihr Gesicht verdunkelte sich. »Ach, die sind scheiße.«
Ich musste wohl einen wunden Punkt bei ihr getroffen haben, also bohrte ich nicht weiter nach. Stattdessen zog ich meinen Flachmann hervor und nahm einen Schluck daraus, bevor ich ihn ihr anbot. Sie schüttelte höflich den Kopf. Ich sah auf die Uhr.
»Okay, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mich warnen wollten, aber ich habe um fünf Uhr eine Verabredung im idyllischen Rockvale.« Anna nickte verständnisvoll, als ich mich erhob, aber ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. Ich bekam den Eindruck, dass sie meine Gesellschaft bewusst gesucht hatte, und an weiblicher Gesellschaft mangelte es mir seit einiger Zeit. Also traf ich eine blitzschnelle Entscheidung, als sie ebenfalls aufstand.
»Wollen Sie mich vielleicht begleiten?«, bot ich ihr an und zeigte zu meinem Auto hinaus. »Es ist ein sonniger Tag und ich habe ein Cabrio. Wir könnten uns doch während der Fahrt auf den neuesten Stand bringen.« Sie zögerte für einen Moment, bevor sie meine Einladung mit einem freundlichen Lächeln annahm.
Unterwegs erzählte mir Anna, wie ihr Leben seit damals verlaufen war. Wenn sie mich ansah, wirbelte der Fahrtwind ihre Haare in die Höhe. Ich ertappte mich bei dem Gedanken daran, mir vorzustellen, wie sie auf mir saß und ihre Haare auf die gleiche Weise um ihren Kopf peitschten, während sie sich in Ekstase wand. Ich versuchte, die Bilder schnell wieder zu verdrängen, und beobachtete, wie sie an meinem Radio herumdrehte.
»Funktioniert es?«, fragte sie.
»Klar doch. Ist ein Standard-Mittelwellen-Radio.« Sie sah mich verwirrt an, also erklärte ich es ihr. »Damals gab es solche Radios nur auf Wunsch.«
»Oh, dann hörten die Leute damals wohl nicht so gern Musik«, antwortete sie. Ich musste lachen. Ich persönlich hielt die Musik der Fünfziger und Sechziger immer noch für die beste Musik überhaupt, aber anstatt mit ihr darüber zu diskutieren, wechselte ich lieber das Thema.
»Wie sind Sie eigentlich Stripperin geworden?«, fragte ich sie. Sie zögerte kurz, bevor sie die Frage beantwortete.
»Ich hatte eine Freundin, die strippte. Sie verdiente gutes Geld damit und ich dachte mir, wieso sollte ich es nicht selbst ausprobieren?«
»Da würden mir sofort ein Dutzend Gründe einfallen«, spottete ich.
»Sie werden mir jetzt aber keine Lektion erteilen, oder?«
»Nope«, warf ich schnell ein und mir wurde bewusst, dass ich wohl besser meine Klappe gehalten hätte.
»Gut.« Ein paar Meilen fuhren wir schweigend dahin und dann redete sie weiter. »Es ist ja nicht so, als ob ich vorhätte, eine Karriere damit zu machen, aber es ist gutes Geld. Ich hatte innerhalb weniger Monate mein Auto abbezahlt und gerade erst war ich mit Freunden in Vegas. Alles bar bezahlt. Das könnte ich mir mit einem Drecksjob als Kellnerin oder etwas Ähnlichem niemals leisten.«
Ich nickte, sagte aber nichts dazu.
»Sie verurteilen mich doch«, rief sie.
»Überhaupt nicht.«
»Aber Sie sagen nichts dazu.«
»Sie haben mich doch nicht nach meiner Meinung gefragt.« Über die Jahre hinweg hatte ich gelernt, dass es seinen Grund hatte, wenn die Leute einen nicht nach seiner Meinung fragten. Meistens wollten sie diese nämlich gar nicht hören.
Ich wechselte daraufhin das Thema. »Haben Sie einen Freund?«
»Ja, das hatte ich, aber er ist durchgedreht, als ich ohne ihn nach Vegas gefahren bin, also habe ich ihn abgeschossen«, erklärte sie mir und grinste hämisch. »Er ist ein Cop. Vielleicht kennen Sie ihn sogar.«
»Arbeitet er hier in Nashville?«, fragte ich. Sie nickte. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kenne nicht mehr viele von den jüngeren Cops. Ich arbeite schon seit einer ganzen Weile nicht mehr dort.«
Anna sah mich fragend an. »Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen? Sie sind gar kein Cop mehr?« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Wieso nicht? Sind Sie im Ruhestand?«
»Ich habe den Job an den Nagel gehängt.«
»Wieso?«
Ich warf ihr einen Seitenblick zu und fuhr weiter. »Ist eine lange Geschichte.«
Sie hob ihre Hände und wackelte mit den Fingern, als würde sie mich mit einem Fluch belegen wollen. »Ooh, der Detective macht einen auf geheimnisvoll«, sagte sie mit einem sarkastischen Grinsen.
Okay, sie wollte es offenbar nicht anders. »Meinetwegen. Also, die Geschichte geht ungefähr so: Ich lernte meine Frau kennen, da war ich ungefähr in Ihrem Alter. Ihr Name war Marcia. Wir heirateten und ein paar Jahre später wurde sie schwanger. Ungeplant, denn sie wollte gar keine Kinder. Sie brachte sich deshalb um, zusammen mit unserem ungeborenen Kind, und ich geriet in den Verdacht, sie umgebracht zu haben. Seither wird gegen mich ermittelt, hauptsächlich von einem Assistant Chief, der mich sowieso schon auf dem Kieker hatte. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie mich eines Tages doch noch einbuchten würden.« Ich sah sie an. Jetzt grinste sie nicht mehr. Die GPS-App auf meinem iPhone piepste und ließ uns durch seine körperlose Stimme wissen, dass wir unseren Zielort erreicht hatten.
»Wir sind da«, sagte ich und bog in die Einfahrt.
Der lang gezogene Weg aus Kies erinnerte mich an meine eigene Einfahrt: kurvig und von Bäumen gesäumt. Sie führte zu einem älteren, entzückenden, einstöckigen Farmhaus, das sich an den Fuß eines Berges schmiegte. Die Holzverkleidung hatte schon seit ein paar Jahren einen frischen Anstrich nötig und der von Unkraut überwucherte Rasen schrie förmlich nach einem Landschaftsgärtner.
»Wollen Sie im Wagen warten?«, fragte ich. Anna war wesensverändert, seit ich ihr vom viel zu frühen Ableben meiner Frau erzählt hatte. Sie nickte schweigend und zündete sich eine Zigarette an. Ich verstand sie durchaus.
Rhoda Gwinette, der ebenfalls eine Zigarette aus dem Mundwinkel hing, erwartete mich bereits an der Haustür. Die Tür stand offen, doch das Fliegengitter war mit einem billigen Schloss gesichert. Eines von der Sorte, die eher dafür gemacht waren, die Tür am Herausfallen zu hindern, als Eindringlinge fernzuhalten.
Wirklich attraktiv konnte man sie nicht nennen. Wahrscheinlich war sie das auch niemals gewesen. Sie war Ende fünfzig und hatte feuerrotes Haar, das sie mit jeder Menge Haarspray zu einer dieser Alte-Frauen-Frisuren zurechttoupiert hatte. Krähenfüße hatten sich tief um ihre Augen eingegraben und ihr Doppelkinn ließ sie noch weitere zehn Jahre älter aussehen. Die herabhängenden, mürrisch wirkenden Mundwinkel rundeten den Gesamteindruck ab. Ihre Körperform glich einer übergroßen Birne, die sie mit einer rostfarbenen Bluse und einer von diesen komischen dehnbaren Hosen verhüllte, die von fetten Frauen auf der ganzen Welt getragen wurden.
»Wer sind Sie?«, fragte sie gereizt.
»Ms. Gwinette? Ich bin Thomas Ironcutter. Ich bin ein Freund von Sheriff Harvey Wilson. Er bat mich, mit Ihnen über Ihren verstorbenen Ehemann zu reden.« Ich versuchte, ein nettes Gesicht aufzusetzen, aber ein richtiges Lächeln wollte mir einfach nicht gelingen. Eigentlich wollte ich nämlich gar nicht hier sein.
»Woher soll ich denn wissen, dass Sie mir die Wahrheit sagen?«, fragte sie mich ängstlich.
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