Es war eine fantastische Erfahrung. Ich lernte, meine Haare aufzudrehen und trug nun einen modischen Chelsea Cut. Mit Lockenwicklern zu schlafen war zwar unbequem, doch diese tollen Wellen waren es allemal wert. Im März wurde ich sechzehn und gab eine große Party bei uns im Haus. Ich trug eine Seidenbluse, die je nach Licht in unterschiedlichen Farben schimmerte, einen bunten Bauernrock und einen breiten, gelben Gürtel. Ich sah aus wie Wonder Woman. Nachmittags kamen meine sechs besten Freundinnen, wir legten unsere Lieblingskassetten in den Stereo-Recorder und tanzten im Wohnzimmer. Mein Lieblingssong war »Rasputin« von Boney M. Für meine Freundinnen und mich war es der neueste Hit, obwohl das Stück schon 1978 erschienen war. Es dauerte immer Jahre, bis populäre Popsongs bei uns ankamen. Wir standen auf den Mix aus Disco und folkinspirierten arabischen Beats. Und natürlich auf den coolen Chor. Immer wieder spielten wir das Stück und gröhlten »Rah rah rah …«, bis wir heiser waren. Nicht, dass wir gewusst hätten, was wir da sangen …
Ich fühlte mich super: gerade mal sechzehn Jahre alt und schon Friseurin. Bald darauf wechselte ich in den Haarsalon meiner guten Freundin Lina. Wir nannten ihn »Sandra«, Linas Lieblingsname aus dem Westen. Tatsächlich war unser Laden ein kleines Zimmer im Erdgeschoss des Hauses ihrer Familie, in das wir einen Stuhl stellten und einen Spiegel hingen. Was fehlte, war das professionelle Waschbecken. Wenn wir unseren Kundinnen die Haare wuschen, gab es daher immer ein ziemliches Fußbad.
Unsere ersten »Versuchskaninchen« werde ich nie vergessen. Da war zum Beispiel eine Frau, die blonde Highlights in ihre sehr langen, sehr dunklen Haare wollte. »Aber gerne doch, gnädige Frau«, sagten wir, obwohl wir kein richtiges Rezept für den Aufheller hatten. Wir rührten ein Bleichmittel an, setzten ihr eine Kappe auf und färbten die Strähnen. Während der Aufheller einwirkte, bereiteten wir uns einen Mate-Tee mit Zucker, setzten uns zu unserer Kundin und plauderten mit ihr. Offenbar war es ein anregendes Gespräch, denn ihren Haaren schenkten wir kaum noch Beachtung. Irgendwann führten wir sie zum Waschbecken und nahmen die Kappe ab. Zu unserem Entsetzen lösten sich die gebleichten Strähnen von der Kopfhaut. Die Dame sah in den Spiegel und sagte: »Ich sehe kein Blond?« – »Wahrscheinlich war der Aufheller nicht stark genug«, antworteten wir. »Wir versuchen es noch einmal.« Beim zweiten Mal mischten wir deutlich weniger Bleiche in die Farbe, achteten auf die Zeit, und die Highlights waren perfekt. Wie gut, dass sie sehr dichtes Haar hatte. Die Frau verließ unseren Laden als zufriedene Kundin. Kaum war sie außer Reichweite, prusteten Lina und ich los. Unsere angestaute Panik löste sich in Gelächter auf.
Dass ich arbeitete, bedeutete nicht, dass ich mich der Aufsicht meiner Familie hätte entziehen können. Meine Lieben achteten streng auf alles, was ich tat. Vor allem Hivron gerierte sich als Aufpasserin und Spionin. Eines Nachmittags war ich in Linas Salon und wir gaben uns unserer neusten Gewohnheit hin: Wir rauchten Zigaretten, die besonders gut schmeckten, weil wir sie heimlich konsumierten. An jenem Tag war es sehr heiß im Salon, und ich stand auf, um die Tür zu öffnen. Draußen im Schatten lungerte Hivron herum, ihre Augen tellergroß. Sie drohte mir mit dem Finger und sagte: »Erwischt! Du rauchst. Das sage ich Mama.« Dann rannte sie fort. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich in nervöser Anspannung. Ich fürchtete, dass meine Mutter mir verbieten würde, bei Lina zu arbeiten, wenn Hivron mich verpetzte. Ich hätte sie umbringen können!
Als ich nach Hause kam, rief Mama mich in die Küche. »Rauchst du?«, fragte sie mich. – »Natürlich nicht«, antwortete ich mit zitternden Knien. – »Warum lügst du?«. Ich weiß nicht, warum ich nicht die Wahrheit sagte. Sie gab mir eine Zigarette aus Babas Schachtel und forderte mich auf, sie anzuzünden. »Ich rauche nicht«, wiederholte ich. – »Du rauchst«, entgegnete sie. »Ich will nicht, dass du es vor mir verbirgst, und dann erfahre ich es von Hivron oder von den Nachbarinnen. Ich will nicht, dass du etwas hinter meinem Rücken tust, was du sehr wohl vor meinen Augen tun kannst.« Ich gestand alles, und von dem Tag an verheimlichte ich ihr nicht mehr, wenn ich rauchte.
Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag änderte sich mein Leben grundlegend. Meine kleine Schwester Maha bekam einen Heiratsantrag. Sie nahm ihn an und zog nach Kobane, eine Zweitagesreise von Sham entfernt. Bald darauf wurde sie schwanger. Gelegentlich besuchte sie uns zu Hause. Ich vermisste sie sehr. Ihr ganzes Leben lang hatten wir ein Zimmer und ein Bett geteilt. Jetzt erschien mir dieses viel zu groß. Meine Situation war ohnehin verwirrend. Einerseits träumte ich davon, als unabhängige Frau eine grandiose Karriere als Friseurin zu machen. Andererseits wollte ich mich verlieben, wollte heiraten und irgendwann Kinder haben. Mit knapp siebzehn saß ich quasi zwischen allen Stühlen. Ich nahm eine Teilzeitstelle in einem eleganten Damensalon an. Er lag strategisch günstig im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, in dem mehrere syrische TV- und Soap-Stars wohnten. Wenn sie von ihren Touren erzählten, hing ich an ihren Lippen. Die Welt gehörte ihnen, schien mir, und genau das wollte ich auch für mich.
Ich war zwanzig, als meine Chance kam. Eines Tages stand eine junge Frau in Linas Friseursalon und musterte mich von oben bis unten. »Sind Sie die Tochter von Abu Mohammad Kurdi?«, fragte sie. Ich nickte. »Ich wohne hier in der Nähe«, fuhr sie fort. »Meine Schwester kennt einen Kurden aus dem Irak, der jetzt in Kanada lebt. Er heißt Sirwan. Er ist für einen Monat hier, und er sucht eine kurdische Braut. Er möchte Ihre Eltern besuchen.« Gemeint war, dass er um meine Hand anhalten wollte. Ich war nicht sicher, was ich davon halten sollte, aber dieser geheimnisvolle Mann, der auf der anderen Seite der Erde lebte, reizte mich durchaus. Ich dachte an meinen Traum: Ein Leben im Westen hatte ich mir immer gewünscht. Wir vereinbarten einen Termin für den Besuch Sirwans.
Ein paar Tage später stand er vor unserer Tür. Wir folgten dem traditionellen muslimischen Protokoll, das vorsieht, dass die zukünftige Braut erst auftaucht, nachdem sich der Heiratswillige und andere Gäste mit den Eltern im Wohnzimmer niedergelassen haben. Sie kommt auch nur dazu, um arabischen Kaffee zu servieren.
Ich betrat das Zimmer mit einem silbernen Tablett, auf dem ich Kaffee und Gläser mit Wasser servierte, hoffend, dass meine zitternden Hände nicht meine Nervosität verraten würden. Ich versuchte, so viel wie möglich mitzubekommen. Schnell und diskret gelang es mir, einen Blick auf Sirwan zu werfen, bevor ich den Raum wieder verließ. Er war wesentlich älter als ich. Tatsächlich trennen uns elf Jahre. Kaum draußen lauschte ich an der Tür, um zu hören, was drinnen gesagt wurde. Doch mein Herz klopfte so heftig, dass ich kaum etwas verstand. Zum Glück spionierte Hivron an diesem Nachmittag für mich. Immer wieder ging sie ins Wohnzimmer und wenn sie rauskam versorgte sie mich mit Lageberichten.
Baba befragte Sirwan. »Was für eine Ausbildung haben Sie?«, wollte er zum Beispiel wissen. – »Ich habe im Irak Jura studiert, konnte mein Studium aber nicht beenden, bevor wir nach Kanada gingen.«
»Wie wollen Sie für meine älteste Tochter sorgen?« – »Zurzeit bin ich Koch in einem Restaurant. Ich werde uns eine schöne Wohnung suchen. Ich kann ihr ein gutes Leben in Kanada bieten.«
Ehrlich gesagt waren mir die finanziellen Arrangements ziemlich gleichgültig. Es war mir auch egal, ob ich mich unsterblich in meinen künftigen Mann verlieben könnte. Mir ging es um den Traum vom Leben im Westen, der endlich wahr werden würde. Mein Vater bestand darauf, dass wir die Ehe in Damaskus schlössen, und das auch erst, wenn die Einwanderungspapiere vollständig vorlägen. Man hörte nämlich immer wieder Geschichten von Männern, die aus dem Ausland nach Syrien kamen, um eine Syrerin zu heiraten, von der sie sich gleich nach der Hochzeit wieder scheiden ließen, und zwar noch bevor die Frauen ein Recht auf Einbürgerung in ihrer neuen Heimat hatten. Diese Frauen wurden dann wie eine Kiste voller Scherben zurück zu ihren Eltern geschickt. Mein Vater wollte alles tun, um mir dieses Schicksal zu ersparen.
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