Im folgenden Sommer reiste ich nach Sham, um das Grab meiner Mutter zu besuchen und ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das Haus war voll anlässlich meines Besuchs, und gleichzeitig war es leer ohne sie. Ein riesiges Loch gerissen mitten in unser Leben. Mein Vater hatte ein großes Foto von Mama rahmen lassen. Es hing so an der Wand, dass er und Abdullah sie bei jeder Mahlzeit sehen konnten. »Probier mal das Kibbeh«, sagte Abdullah dann zu ihr. »Ist aber nicht so lecker wie deines.«
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, erwartet man in islamischen Kulturen, dass die Trauernden im Namen des Verstorbenen ein wohltätiges Werk tun und jemandem in Not helfen. Bei meinem Besuch in Sham bestellte ich beim Metzger vor Ort einhundert Hähnchen. Am nächsten Tag sollten die Kinder von Tür zu Tür gehen. Wenn jemand öffnete, würden sie sagen: »Unsere Tante schickt uns mit diesem Hähnchen zu Ihnen. Im Namen der Seele unserer Großmutter.« Die Beschenkten würden in aller Bescheidenheit das Geschenk entgegennehmen und antworten: »Möge die Seele eurer Großmutter in Frieden ruhen.«
Ich besuchte auch den Olivenhain unserer Familie in Kobane. Mein Vater und meine Brüder hatten ihn ein paar Jahre vor dem Tod meiner Mutter gepflanzt. Baba sagte damals: »Olivenbäume werden Hunderte von Jahren alt, sie sind winterhart und widerstehen der Trockenheit. Wenn wir Oliven anbauen, kann jeder von uns ein Jahr vom Ertrag leben.« Gewiss, es dauert gute fünf Jahre, bis ein Olivenbaum groß genug ist, um Früchte zu tragen. Doch mein Vater kann, wenn er will, sehr geduldig sein.
Zwischen 2000 und 2010 kehrte ich mindestens jeden zweiten Sommer nach Damaskus zurück. Die Stadt wuchs und veränderte sich, doch oben auf dem Berg, auf unserer Dachterrasse, schien die Zeit stillzustehen. Jeden Morgen weckte mich der Gebetsruf. Jeden Tag lief ich, nachdem ich meinen arabischen qahwah – Kaffee – getrunken hatte, ans Fenster, um die Händler und Verkäufer zu hören, die auf der Straße unterwegs waren, während Sham erwachte. Bei meinem Besuch im Sommer 2005 weckte mich überdies jeden Morgen der Klingelton meines Handys. Rocco rief an, ein italienischstämmiger Kanadier, den ich im Jahr zuvor kennengelernt hatte. Wir waren in den vergangenen Monaten mehrmals miteinander ausgegangen. Meine Kolleginnen spielten jeden Sonntag Volleyball am Kits Beach, und irgendwann kam Rocco regelmäßig vorbei. Er war ein ebenso schlechter Volleyballspieler wie ich, aber mein Sohn und er wurden bald Freunde. Alan war erst zwölf, aber weitaus reifer als andere Kinder in seinem Alter. Überdies verfügte er über eine grandiose Menschenkenntnis. Dass er Rocco mochte, war ein gutes Zeichen. Es war verführerisch, als Rocco mich kurz vor meinem Abflug nach Damaskus um ein Rendezvous bat. Doch meine Familie wollte mich lieber mit einem netten Syrer sehen. Meine Schwestern hatten ein paar Kandidaten im Kopf, die ich treffen sollte, wenn ich im Land wäre. Ich sagte Rocco, dass es sein könnte, dass ich vielleicht nicht mehr Single wäre, wenn ich nach Kanada zurückkäme. Doch er gab nicht auf.
»Darf ich dich in Syrien anrufen?«, fragte er. Ich sagte, das könne er tun. Rocco arbeitete im Verkauf, und bei unseren täglichen Telefongesprächen erwies sich, dass er ein Meister seines Fachs war.
Wir heirateten 2006 in seiner Heimatstadt Toronto. Es war eine große italienische Hochzeit. Leider konnte meine Familie nicht dabei sein. Der Weg nach Kanada war zu weit. Alan führte mich zum Altar, und meine liebe Freundin Iris war meine Brautjungfer. Damit wir einen Hauch von Sham bei der Feier hätten, heuerte ich eine Bauchtänzerin an. Ich vermisste meine Liebsten, doch ich genoss ein Stückchen Heimat während unserer Flitterwochen in Montreal. Die Stadt war der erste Ort in Nordamerika, der mich an Damaskus erinnerte: alte Gebäude, enge, mittelalterlich wirkende Sträßchen, soziales Leben im öffentlichen Raum, Cafés, Bars und all die fantastischen Restaurants, die köstliches Essen aus dem Nahen Osten servierten!
Zurück in Vancouver zogen wir in ein hübsches Terrassenhaus in Coquitlam, mit einer von der Küche aus begehbaren hinteren Veranda und einem Garten, in dem ich Gurken und saftige Biotomaten anbauen konnte. Ich fügte einen Hauch Damaskus hinzu und pflanzte Wein. Die Trauben sollten sich an einem großen Zedernholz-spalier emporranken, und ich wollte in ihrem Schatten sitzen, Kaffee trinken und mit meinen Freundinnen plaudern. Rocco und ich planten auch gemeinsame Kinder, doch es sollte nicht sein. Wir versuchten es immer wieder, letztlich sogar mit künstlicher Befruchtung. Vergebens. Ich war verzweifelt und traurig, dass ich keine weiteren Kinder bekommen konnte, doch ich musste es hinnehmen.
Mein Mann war viel unterwegs. Häufige Geschäftsreisen führten ihn quer durch Kanada und auch nach Fernost. 2011 kündigte ich meinen Job im Salon, um Rocco nach Shanghai zu begleiten, wo wir bis 2013 lebten. Zeitlich war ich in jenen Jahren flexibel, und ich genoss unsere zahlreichen Trips zu den exotischsten Orten dieser Welt – Philippinen, Hongkong, Singapur, Bangkok.
Vor unserem Umzug nach Shanghai hatte ich fast jeden Sommer in Syrien verbracht. Manchmal kamen Alan und Rocco mit, andere Male reiste ich allein. Meist blieb ich vier bis sechs Wochen. Zwischen den Besuchen telefonierte ich mindestens einmal wöchentlich mit meinen Lieben. Später kommunizierten wir via Internet und Videocall. Onkel Mahmoud war der Erste, der diese neuen Medien nutzte, und meine Familie meldete sich regelmäßig bei mir, wenn sie bei ihm war.
Bei meinen häufigen Aufenthalten in Damaskus blieb mir nicht verborgen, dass die Stadt von Jahr zu Jahr westlicher und moderner wurde. Mittlerweile gab es Vergnügungsparks und Internet-Cafés, Sushi-Restaurants waren angesagt, und viele trugen ein Handy mit sich. Doch auch die Altstadt lebte weiter und man konnte sich nach wie vor herrlich im Labyrinth ihrer Gassen mit den bezaubernden Schätzen verlieren. Die Orte, die ich in meiner Heimatstadt am meisten liebte, hatten sich nicht verändert. Und immer noch blühte überall wilder Jasmin. In Kaskaden rankte er sich von den Balkonen und auf den Innenhöfen, quoll aus den Blumentöpfen, ergoss sich über die antiken Steinwälle, blühte zwischen den Pflastersteinen.
Meine syrische Familie – überwiegend selbstständige Kaufleute und kleine Gewerbetreibende – genossen, wie auch frühere Generationen, eine Ära der Stabilität, des Wachstums und des zunehmenden Wohlstands. Mohammads Friseursalon florierte, und seine Frau Ghouson bekam zwei weitere Kinder. Shireen hatte jetzt drei Jungen. Maha lebte nach wie vor in Kobane, jetzt mit acht Kindern. Hivron war fünffache Mutter und wohnte noch bei den Schwiegereltern. Sie und ihr Mann hatten sich bei Jarmuk, einem Vorort von Damaskus, überdies ein Sommerhaus gebaut. Meine jugendlichen Nichten und Neffen in Sham organisierten sich Ferienjobs und verdienten genug, um Handys und Sneaker zu kaufen.
Abdullah hatte seine Unterkunft immer noch bei Baba in Sham. Er war nun 33 Jahre alt und nach wie vor alleinstehend. Keine Partnerin, die wir vorschlugen, gefiel ihm. Die Frauen, die wir nannten, interessierten ihn nicht. Er wollte selbst wählen. Er ließ sich auch nicht drängen oder sich von seinen liebevollen, doch sehr dominanten, nervenden Schwestern die Entscheidung abnehmen.
Im Spätsommer 2010, kurz nachdem ich von einer meiner Sommerreisen nach Kanada zurückgekehrt war, fuhr Abdullah mit unserem Vater und Mohammad nach Kobane, um sich um den Olivenhain der Familie zu kümmern. Die Bäume trugen schöne, reife Früchte – nicht allzu viele, doch es war ein Anfang. Diese ersten Ernten brachten unserer Familie tatsächlich etwas Geld ein. Eines Tages arbeitete Abdullah auf der Plantage, als ihm eine junge Frau mit dunklen Haaren auffiel. Ihre Familie rief sie Rehan, das arabische Wort für Basilikum. Andere aber nannten sie Rehanna. Sie war 22 Jahre und sehr schüchtern, doch Abdullah fand schnell heraus, dass sie eine Cousine zweiten Grades war. In Syrien ist es nicht ungewöhnlich, dass man den Cousin oder die Cousine zweiten Grades heiratet. Abdullah verliebte sich in Rehanna.
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