Tima Kurdi wurde in Damaskus geboren und wanderte 1992 nach Kanada aus, wo sie als Friseurin arbeitete. Ihr Neffe Alan Kurdi starb bei dem Versuch seiner Familie, auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg mit einem Boot von der Türkei nach Griechenland überzusetzen. Das Bild des toten Jungen am Strand wurde zum Sinnbild der internationalen Flüchtlingstragödie. Tima Kurdi ist heute eine anerkannte Sprecherin, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Gemeinsam mit ihrem Bruder ist sie Gründerin der Kurdi Foundation, die sich für geflüchtete Kinder engagiert.
Tima Kurdi
Die Geschichte einer
Familie auf der Flucht
Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese
Copyright © 2018 by Tima Kurdi, this translation published by arrangement with The Cooke Agency International, CookeMcDermid and Liepman AG. Originally published in English under the title The Boy on the Beach by Simon & Schuster Canada.
Fotos: Matic Kozinc/Unsplash (Einband), Maxine Bulloch ( S. 2 Tima Kurdi wurde in Damaskus geboren und wanderte 1992 nach Kanada aus, wo sie als Friseurin arbeitete. Ihr Neffe Alan Kurdi starb bei dem Versuch seiner Familie, auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg mit einem Boot von der Türkei nach Griechenland überzusetzen. Das Bild des toten Jungen am Strand wurde zum Sinnbild der internationalen Flüchtlingstragödie. Tima Kurdi ist heute eine anerkannte Sprecherin, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Gemeinsam mit ihrem Bruder ist sie Gründerin der Kurdi Foundation, die sich für geflüchtete Kinder engagiert.
), Fabian Heinz (S. 13), Tima Kurdi ( S. 7 Alan Kurdi (links) und Ghalib Kurdi (rechts) Rest in peace, angels .
, S. 162
–175), Kurdistan Reginal Government (S. 176 oben), Office of Congresswoman Tulsi Gabbard (S. 176 unten)
© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin/Hamburg 2020
Assoziation A, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin
www.assoziation-a.de, hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de
Gestaltung: Andreas Homann
eISBN 978-3-86241-633-2
Prolog
Erster Teil
1. Stadt des Jasmin
2. Heimweh
3. Du bist mein Leben
4. Ghalib
5. Friss oder werde gefressen
Zweiter Teil
6. Alan
7. Das hat der Krieg uns angetan
8. »Inschallah« wird alles gut
9. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück
10. Ruhet in Frieden
Fototeil
Dritter Teil
11. Wer Dornen pflanzt, wird keine Blumen ernten
12. Ein Augenblick
13. Sie sind jetzt wie die Vögel
14. Unsichtbar
15. Ein oft verpflanzter Baum gedeiht nicht
Epilog:Jasminduft in der Luft
Danksagung
Gordon Isler: »Ein Weckruf an die Welt«
Alan Kurdi (links) und Ghalib Kurdi (rechts) Rest in peace, angels .
Die Familie von Ghalib und Radiya Kurdi
Für Abdullah,
der den Mut hatte, diese Geschichte zu erzählen
Für meinen Baba , der unserer Familie die Kraft gegeben hat, weiterzuleben und die Hoffnung nicht aufzugeben
»Ich kann sie von hier aus sehen«, sagte mein Bruder Abdullah. Dann beschrieb er mir, seiner großen Schwester, die weit weg in Kanada in Sicherheit lebte, die Umrisse der Insel. »Sie ist gleich da drüben«, sagte er. »So nah – und doch so fern.«
Mein Bruder war aus Syrien geflohen. Jetzt stand er auf türkischem Boden und blickte auf Kos, die große, sanft abfallende griechische Insel am Horizont. Tagsüber war Kos eine Fata Morgana in mittlerer Entfernung. Nachts funkelten ihre Lichter wie Sterne. Sie schienen so lebendig, so nah, dass man glaubte, sie berühren zu können. Im Sommer 2015 war der Ort, der dort im Meer flimmerte, für Tausende syrischer Flüchtlinge ein Sprungbrett nach Europa und ihre letzte Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Abdullah schickte mir eine SMS: »Der Schleuser sagt, dass die Überfahrt morgen stattfinden wird. Hundertprozentig.«
»Sprich mit Baba , bevor ihr aufbrecht«, antwortete ich.
Doch dann zog ein heftiges Gewitter auf, mit Windgeschwindigkeiten von bis zu achtzig Stundenkilometern. Das Boot konnte nicht ablegen. Die Überfahrt verzögerte sich. Tagelang.
9. August: »Heute Nacht geht’s los.« Und wieder stürmte es.
10. August: »Wir waren am Treffpunkt; der Schleuser hat uns zurückgeschickt.« – »Was ist mit dem Geld? Ist es verloren?« – »Nein. Wir versuchen es heute Nacht noch mal. Sei unbesorgt, Schwester. Geh schlafen.«
Unbesorgt sein – das war unmöglich. Jedes Mal, wenn ich Abdullahs Nachricht las – »Heute Nacht geht’s los!« –, stockte mir der Atem. Acht Stunden Zeitverschiebung liegen zwischen der Türkei und meiner Heimat Vancouver. Ich hatte mir angewöhnt, früh ins Bett zu gehen. So wachte ich vor Tagesanbruch auf und konnte mein Handy checken. Um meinen Mann nicht zu stören, der sich nach den Arbeitszeiten richten musste, ließ ich mein Handy abends in der Küche liegen. Morgens eilte ich dann gleich dorthin, um nachzuschauen, ob mir jemand geschrieben hatte. Wann immer mein Handy eine neue Nachricht signalisierte, setzte mein Herz aus. Einen ganzen Monat lang ging das so. Jeden Tag.
Nur vier Kilometer trennten meinen Bruder und die Küste von Kos. So nah und doch so fern. Abdullah war in Bodrum, in der Türkei. Geflohen vor den Terrorgruppen, die unser Land Syrien fest im Griff hatten.
Verarmt und illegal hatten er und seine Familie es zunächst bis Istanbul geschafft, wo sie jedoch kaum genügend zu essen hatten und nur mit Mühe ein Dach über dem Kopf fanden. Immerhin: Sie waren am Leben, trotz der Gleichgültigkeit der vielen Regierungen, die ihre Grenzen dicht gemacht hatten. Die Türkei bildete nun den Korridor auf dem Weg nach Griechenland, dem einzigen Land in der Region, von dem aus die Weiterreise in die wenigen nordeuropäischen Staaten, die noch syrische Flüchtlinge aufnahmen, möglich war. Das Leben im Norden gestaltete sich generell etwas leichter. In Deutschland und Schweden konnten Geflüchtete ganz legal Asyl beantragen und sich niederlassen, eine Chance, die die Türkei und andere Nachbarländer Syriens im Nahen Osten nicht boten.
Doch wie sollte mein Bruder mit seiner Familie die griechische Insel erreichen? Dafür musste er seine Frau Rehanna und die beiden kleinen Söhne Ghalib und Alan unbemerkt über die von der griechischen Polizei und Küstenwache streng kontrollierte Ägäis bringen. Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen wurden, schickten diese zurück in die Türkei. Die Region war überdies berüchtigt für heftige Winde, die binnen Sekunden über dem Meer auffrischten, manchmal tagelang wehten und das Wasser zu einer reißenden Bestie machten. Abdullah konnte nur hoffen, dass es ihnen gelingen würde, sicher ans andere Ufer zu gelangen. Sie hatten schon etliche Gefahrenzonen durchquert, bis sie schließlich in der Türkei angelangt waren. Nun glaubten sie fest daran, dass sie die vier Kilometer, die noch vor ihnen lagen, auch noch schaffen würden, um auf der anderen Seite ein neues Leben zu beginnen.
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