Mein Gehalt war passabel und ich sparte einige Jahre, bis ich es mir schließlich 2002 leisten konnte, wieder nach Damaskus zu fliegen. Alan war mittlerweile neun Jahre alt. Diese Heimreise werde ich nie vergessen. Seit ich Syrien verlassen hatte, war meine Familie enorm gewachsen. Ich sah jede Menge fremde Gesichter in der Menge, die uns am Flughafen erwartete. Mohammad hatte Ghouson geheiratet, eine schöne, große, schlanke Frau aus Rukn al-Din. Sie lebten mit ihren zwei kleinen Kindern – ein Mädchen namens Heveen und ein Baby namens Shergo – in der dritten Etage unseres Hauses auf dem Berg. Maha reiste mit ihren sechs Kindern – Rodeen, Adnan, Barehan, Fatima (nach mir benannt), Mahmoud und Yasmeen – aus Kobane an. Meine Schwester Shireen hätte ich fast nicht wiederkannt. Sie war jetzt 23 Jahre alt und Ehefrau eines Zimmermanns namens Lowee. Die beiden wohnten ganz in der Nähe meines Elternhauses, auf halber Strecke zwischen unserem Domizil am oberen Ende und dem Fuß der steilen Straße, die ins Tal führte. Ihr Heim war perfekt für einen Zwischenstopp mit einem Glas Tee, wenn man sich mit schweren Taschen bepackt auf dem Rückweg vom Lebensmittelmarkt befand. Shireens und Lowees zwei kleine Söhne hießen Yasser und Farzat.
Und dann meine kleine Spionin Hivron. Jetzt war sie zwanzig, eine erwachsene junge Frau. Ahmad, der gleich nebenan wohnte, hatte ein Auge auf sie geworfen. Onkel Mahmoud war skeptisch: »Er ist so jung; er hat nichts. Du bist jung und schön«, warnte er meine Schwester vor ihrem Verehrer. »Du kannst jeden haben.« – Doch Hivron kämpfte für Ahmad: »Ich bin verliebt. Er oder keiner!«, waren ihre Worte. Sie war entschlossen, und wenn Hivron etwas will, dann bekommt sie es auch. Bei unserem Besuch 2002 hatte Hivron drei kleine Kinder, zwei Töchter mit Namen Rawn und Ghoufran und einen Sohn namens Abdulrahman.
Abdullah war längst nicht mehr der tolpatschige, unbekümmerte Junge, den ich von früher erinnerte. Mit 26 Jahren und Bartstoppeln in seinem fein gezeichneten Gesicht war er jetzt ein echter Mann. Sein freundliches und humorvolles Wesen hatte sich jedoch nicht verändert. Sein breites Lächeln war ansteckend wie eh und je. Abdullah hatte mehrere Länder im Nahen Osten bereist, aber Syrien war ihm das liebste. Jetzt arbeitete er in Mohammads Salon. Noch war er unverheiratet und lebte nach wie vor in der zweiten Etage des Hauses unserer Eltern.
Ein großer Schock für mich war jedoch meine Mutter. Meine schöne, lebhafte Mutter war alt geworden. Sie war erst 51, doch sie wirkte viel älter. Ihr Gesundheitszustand hatte sich über die Jahre dramatisch verschlechtert. Sie litt unter einer schweren Diabetes und hatte, wie viele Mitglieder ihrer Familie, Herzprobleme. Am Flughafen in Damaskus kniete ich vor ihr nieder und küsste ihre geschwollenen Füße. »Vergib mir, dass ich so lange fort war«, schluchzte ich. Doch meine Mutter antwortete auf ihre übliche liebevolle Art: »Du bist ein Teil meines Herzens. Du bist mein Leben.«
Wir fuhren nach Hause, in unser Heim, das immer noch seinen eigenen, uralten Duft verströmte. Meine Mutter war von ihrer Krankheit gezeichnet. Doch das hielt sie nicht davon ab, meine Lieblingsgerichte zu kochen: Dolma mit Rindfleisch, Mahshi (gefüllte Zucchini und Auberginen) und vor allem Kibbeh, eine mit köstlichen Zutaten gefüllte Bulgurteigtasche. Ich aß viel bei diesem Besuch, aber ich trainierte es mir gleich auch wieder ab bei meinen Spaziergängen durch die Stadt, die ich neu kennenlernen wollte. Und natürlich tanzte ich viel bei unseren abendlichen Partys. Ich filmte zahlreiche Stunden dieser Reise mit meiner Videokamera. Die Bilder zeigen uns, wie wir durch die Straßen von Damaskus schlendern, Kaffeepausen einlegen in den Cafés, und wie wir tanzen, immer wieder tanzen. Mohammads Frau Ghouson bewegt sich so anmutig, dass die Kamera ständig auf sie schwenkt. Hivron präsentiert sich stolz mit dem weißen Hausanzug aus Seide, den meine Freundin Iris mir in Vancouver gegeben hatte. Mahas Tochter Fatima ist noch nicht einmal in der Pubertät, und Alan noch ein kleiner Junge, doch er überragt seine Cousine Heveen und seinen Cousin Abdulrahman. Yasser und Shergo sind pummelige Knirpse mit dicken, rosa Bäckchen. Der einzige Unterschied zu der Zeit, in der wir jung waren, ist, dass mehrere von uns jetzt beim Tanzen ihre eigenen Kinder trugen.
Wir hatten eine wunderbare Zeit, doch der sich verschlechternde Gesundheitszustand meiner Mutter warf einen dunklen Schatten auf meine Wochen in Syrien. Bevor ich nach Vancouver zurückflog, hatten wir ein ernstes Gespräch. Sie hielt meine Hand und sagte: »Versprich mir, dass du dich um Abdullah kümmern und ihm helfen wirst, eine gute Frau zu finden.«
Ich wollte das nicht hören. »Du wirst eine Frau für Abdullah finden«, sagte ich. Traurig blickte sie zur Seite.
Den gleichen traurigen Blick hatte sie, als ich sie am Flughafen zum Abschied küsste und sagte: »Wir sehen uns nächstes Jahr.« An jenem Tag sah ich sie zum letzten Mal.
Bald nach meiner Reise erkrankte meine Mutter schwer und wurde bettlägrig. Es folgten viele Monate, die sie abwechselnd im Krankenhaus und zu Hause verbrachte. Meine Geschwister besuchten sie täglich. Abdullah war ihr näher als alle anderen. Er saß permanent an ihrem Bett. Ich litt an jedem Millimeter der zehntausend Kilometer, die uns trennten. Wir telefonierten jeden Tag. Ich nutzte Telefonkarten für Ferngespräche, sodass ich sowohl von der Arbeit als auch von zu Hause anrufen konnte.
Eines Morgens vor der Arbeit erreichte ich niemanden im Haus meiner Eltern. Also rief ich Onkel Mahmoud auf dem Handy an. »Ich kann jetzt nicht. Ich rufe zurück«, sagte er und beendete das Gespräch. Sein Ton verriet nichts, aber ich hatte das schreckliche Gefühl, dass etwas mit meiner Mutter war. Ich war dem Weinen nah. Doch ich riss mich zusammen, drängelte Alan ungeduldig, sich für die Schule fertig zu machen, und fuhr zur Arbeit.
Im Haarsalon hatte ich eine Kundin nach der anderen. Es ergab sich nicht einmal eine zehnminütige Pause. Erst am Nachmittag konnte ich mich in die privaten Räume im hinteren Teil des Geschäfts zurückziehen und brach in Tränen aus. Mein Chef und meine Kollegin fragten, was los sei. Ich gestand ihnen, dass ich mir Sorgen um meine Mutter machte und nicht arbeiten könnte. Sie waren sehr verständnisvoll und erlaubten mir, Onkel Mahmoud noch einmal anzurufen.
»Onkel, sag die Warheit: Was ist los mit Mama?«, schrie ich ins Telefon.
»Wir sind alle in Gottes Hand«, antwortete er.
»Was meinst du? Ist Mama tot?«
»Möge Gott ihrer Seele Frieden geben.«
Ich sank auf den Boden und jammerte laut. »Wartet mit der Beerdigung«, bettelte ich. »Ich will dabei sein. Ich will noch ein letztes Mal ihre Hand halten und ihre Wange küssen. Ich will mich verabschieden.«
»Das geht nicht, Fatima«, sagte Mahmoud sanft. »Komm zur Einjahresfeier an ihrem ersten Todestag.«
Ich wartete keine Sekunde. Ich verließ den Salon und ging nach Hause. Von dort rief ich meine Familie in Damaskus an. Baba meldete sich. Im Hintergrund hörte ich jemanden den Koran rezitieren. Ich weiß nicht mehr, ob wir überhaupt sprachen. Ich glaube, wir weinten nur. Irgendwann gab mein Vater das Telefon weiter an Abdullah.
»Wie soll ich weiterleben? Ich fühle mich so verloren«, sagte Abdullah. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch das Guthaben auf meiner Telefonkarte war aufgebraucht und die Verbindung wurde unterbrochen.
In Syrien sagen wir, dass Allah zwischen den Toten und den Lebenden eine Mauer errichtet, die im Laufe der Zeit höher wird, damit die Familie ihr Leben fortsetzen kann. Doch das ist leichter gesagt als getan. Nach Mamas Tod fiel Abdullah in eine tiefe Depression. Um meines Vaters willen versuchte er, sie so weit wie möglich zu verbergen, und meine anderen Geschwister bemühten sich nach Kräften, Baba nicht allein zu lassen. Mohammads Familie wohnte ja im gleichen Haus wie er, Hivron und Shireen kamen jeden Freitag und verbrachten viele Stunden mit ihm. Doch meine Geschwister hatten auch noch ihr eigenes Leben und viel zu tun. Es war für Abdullah und meinen Vater eine einsame und schwere Zeit: zwei Männer allein in diesem Haus, beide bemüht, tapfer zu sein, wenn sie zusammen waren, und doch jeder für sich um die geliebte Frau und Mutter trauernd.
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