1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 Achtung. Die Frage kann hingeworfene Phrase sein. Weil dem Frager nichts Besseres einfällt. Aber es kann auch der Beginn der Überlegung darin sein. Ein paar Gedanken weiter, dann verschiebt sich die ungleiche Kräfteverteilung des Augenblicks. Dann stünde Uniform gegen Hass. Die Sportlichkeit des Kampfes würde es erhöhen, der Ausgang wäre ungewiss.
In dem Augenblick aber kommt es zur Entladung, mit einer Million Volt. Wie der Kerl da steht. Mit dem schmierigen Lächeln. In einem Roman habe ich mal was von schmierigem Lächeln gelesen. So also ist das. Dieser schleichende Schurke in brauner Uniform. Nagelneu und stinkt doch nach Mief. Kaserne. Kaserne. Der Maurerpolier als Unteroffizier. Ich werd euch in’n Arsch treten, dass die Scheiße zum Maul rausfliegt. Jud Glanz, kleiner Dollarschieber. Mit der Sarah nach New York ausrücken? Und der da, ein Prokurist einer ehrenwerten Kaufmannsfirma? Der Schleimscheißer da, von einem Unteroffizier?
»Wie stehen Sie überhaupt da, wenn Sie mit mir reden?«, herrscht ihn Glanz an. »Wollen Sie nicht gefälligst gerade Haltung annehmen, Sie? Reißen Sie gefälligst ihre Knochen zusammen. So. Hände an die Hosennaht. Finger lang. Noch länger die Finger. Kopf gerade. Linkes Ohr tiefer.«
Gelernt ist gelernt, von Anno Krieg her. Heckerle steht da, der verdonnerte Rekrut, ein Fleischkloß, zur Masse in strammer Haltung erstarrt. Das Hirn sitzt vor dem Bauch im Koppelschloss von dem er weiß, dass es nicht blankgeputzt sei.
Aber das sieht der Leutnant, Hauptmann, Oberst, General Leonhard Glanz garnicht. Er sieht überhaupt nichts. Er ist Hass und Rache und Rache und Hass. Und da hebt er die rechte Hand und schlägt sie dem Rekruten, trotz silberner Litzen und Firlefanz, mitten ins Gesicht. Und noch einmal und noch einmal. Du Schuft, du Schuft, du Schuft.
Dann macht er kehrt. Geht ohne sonderliche Eile bis zum Parkausgang, besteigt ein Taxi: »Hauptbahnhof.«
Der Andere war reglos stehen geblieben. Dann merkte er, wie ihm das Blut aus der Nase auf das neue, braune Hemd tropfte und da erst kam er zur Besinnung.
Das war an einem Nachmittag um vier Uhr gewesen. Um halb fünf ging ein Schnellzug nach Berlin, wusste Glanz. Den würde er gerade erreichen. Einen Handkoffer mit seinen Siebensachen, Siebensachen, es waren wirklich nicht viel mehr als sieben Sachen, hatte er in der Gepäckaufbewahrung stehen. Er hatte während der letzten Nächte in kleinen Hotels logiert, jede Nacht in einem anderen und den Koffer tagsüber in die Gepäckaufbewahrung gegeben. Ein glücklicher Umstand. Denn jetzt musste er weg. Schleunigst. In Hamburg würde er spätestens abends verhaftet sein. K.Z. Und da würden sie ihn kaputt machen. Eigentlich – ein Zeuge war nicht dabei gewesen. Und der Schuft da müsste sich hüten, den feigen Sachverhalt zu erzählen. Aber das hatte der ja garnicht nötig. Ein feister SA-Funktionär gegen ein jüdisches Freiwild.
Feist, wieso feist? Wie weich das Gesicht gewesen war. Glanz hatte das Gefühl gehabt, er schlüge in lauwarmen Brei. Hängebacken. Quabbeliges Fleisch. Wenn man sich nur die Hände waschen könnte. Mit dem Quabbelgefühl in der Hand kann man doch nicht bis Berlin fahren. Vielleicht im Zuge. Scheußlich das Gefühl. Wie feuchtwarme Kinderwindeln. Es riecht sogar so. Hauptbahnhof.
Am anderen Morgen kaufte sich Glanz in Berlin einen billigen Touristenanzug. Das erste Mal im Leben einen Anzug von der Stange. Und einen Rucksack. Die ganzen Siebensachen hinein in den Rucksack. Und nur weg von Berlin. Vielleicht suchte man ihn hier schon. Vielleicht war sein Signaloment schon durchgegeben. Schlesischer Bahnhof. Nur raus aus Berlin.
In der Untersuchungshaft hatte ihm mal einer erzählt, im Riesengebirge über den Kamm zu kommen, das sei kein Kunststück. Trotz Gendarmerie und SA-Kontrolle. Er habe das x-mal gemacht, ehe er geschnappt worden sei. Mit Papieren und so. Vielleicht war der Mann ein Spitzel gewesen. Aber man musste mal sehen. Mehr als schießen können sie nicht. Die Chance war im Krieg alle Tage gewesen. Geht es schief, na da hat man eben Pech gehabt. Aber warum sollte man für die eigene Freiheit, für Leib und Leben nicht riskieren, was man für Kaiser und Reich – wo sind sie jetzt – tausendmal riskiert hatte.
So war Leonhard Glanz über den Kamm gekommen. Im Touristenanzug und mit Rucksack. Mit sieben Sachen, aber ohne Pass und also ohne Namen. Wenn man ihm nicht glaubte, dass er Leonhard Glanz sei, aus Hamburg? Wozu braucht man überhaupt einen Namen, wenn man nur noch ein Garnichts ist? Ein Mensch, was ist schon ein Mensch, wenn er nichts hat? Eine Sache, die hat doch immer noch irgendeinen Wert. Aber ein Mensch in solcher Lage? Achtung, der ist nicht nur kein Wert, der kann sehr rasch ein Unwert sein. Schlimmer. Ein unnützer Esser. Ein Fresser. Ein Niemand. Herr Niemand aus Nirgendwo. Ein Niemand aus Nirgendwo und ohne was, das ist ein Emigrant. So ist das Leben: Station Kaffeehaus.
Wie bitte? Ob ich die Zeitung …? Ich habe sie ja noch garnicht gelesen. Nur erst hinten in den Annoncen geblättert. Das Eigentliche soll ja erst kommen. Früher, ja früher habe ich die Zeitung in fünf Minuten gelesen. So mehr die Überschriften. Dann wusste man Bescheid. Das heißt, man meinte, Bescheid zu wissen. Leider hat sich ja herausgestellt, dass ich nicht im Bilde gewesen war. Heckerle, der war im Bilde gewesen? Es ist eine große Zeit für Lumpen.
Hauptblatt. Erste Seite. Wahrscheinlich Spanien. Natürlich, Spanien. Wer hat sich früher um Spanien gekümmert? Und jetzt alle Tage. Die spanische Regierung in Valencia beabsichtigt dem Völkerbund bei der kommenden Ratstagung ein Weißbuch über die italienischen Eingriffe … Dem Völkerbund. Wenn in Deutschland einer sagt: Völkerbund, dann grinsen die Leute. Na, lassen Sie mal, das hat mit den Nazis nichts zu tun. Das war schon lange so.
Da war ich früher jahrelang Mitglied des Vereins der Getreidehändler der Hamburger Börse. Das war doch was. Ich meine, der Verein. Wenn der was erklärt hatte, da musste man sich doch danach richten. Sonst wäre man doch einfach von der Börse ausgeschlossen worden. Ein Spruch des Hamburger Getreidevereins, der galt in London so gut wie in Chicago oder Buenos Aires. Aber ich bitte Sie, der Völkerbund.
Vielleicht verstehe ich nichts davon. Ich verstehe aber doch etwas davon. Ich habe immer gesagt, dass mit der hohen Politik, das ist garnicht wahr. Das ist alles genau so, wie es sich der kleine Moritz vorstellt. Aber vielleicht verstehe ich nichts davon. Gut. Reden wir von etwas, wovon ich was verstehe.
Als ich hier ankam, sagte man mir, ich müsse auf alle Fälle zuerst zum Hilfskomitee gehen. Wieso, bin ich ein Schnorrer? Ich bin nicht. Bitte sehr, ich weiß nicht, was ich im Augenblick bin. Früher habe ich mal gemeint, ich sei wer. Irrtum. Man sitzt auf einem Stuhl. Und auf einmal ziehen sie einem den Stuhl unterm Hintern weg. Was ist man dann? Guten Tag. Da bin ich. Peter Schlemihl. Der Mann ohne Schatten. Leonhard Glanz, der Mann ohne Pass. Niemand, der Mann ohne Namen. Der Mann ohne Pass, der nichts besitzt als nur einen Hass. Und was für einen Hass. O nein, den habe ich nicht abreagiert, als ich den braunhemdigen Lumpen in die Fresse schlug. Im Gegenteil, ich bin ein Kreuzworträtsel. Von oben nach unten. Von links nach rechts. Ein Kreuzworträtsel ohne Lösung. Nur ich selbst weiß, was rauskommt. Sie müssen es mir glauben, dann ist es gut. Dann bin ich was, zum Mindesten ein Polizeiakt. Glauben Sie es mir nicht, dann bin ich nur ein Purzelbaum, allenfalls eine Nummer, die man in ein Gefängnis steckt.
So ging ich also zum Hilfskomitee. Es sind schon viele Leute da. Immer sind da schon viele Leute und warten. Alle haben sie ihre ganz persönlichen Sorgen, alle meinen sie, was das Schicksal ihnen getan habe, das sei schon ein besonderer Gipfel. Aber alle wollen sie im Grunde dasselbe. So fängt es also mit langem Warten an. Warten? Warten haben ja die meisten von uns gelernt. Herr Glanz nehmen Sie bitte Platz, Herr Direktor wird in wenigen Augenblicken zu Ihrer Verfügung sein. Herr, was heißt in wenigen Augenblicken? Ich hatte elf Uhr mit Ihrem Direktor ausgemacht. Und meine Uhr ist jetzt genau elf. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Ein bisschen flott, der Hochbahnzug fährt schon gerade ein. Wenn wir den versäumen, verlieren wir zwei und eine halbe Minute. Such die Zeit, die du verloren. Du wirst sie nicht wieder finden. Aber vielleicht findest du ganz etwas anderes. Ein Blümlein, wie Goethe. Oder ein Gravitationsgesetz, wie Newton. Vielleicht findest du nur einen alten Nagel, um dich daran aufzuhängen. Vielleicht auch findest du eine Weltanschauung. Gotama Buddha fand die Erlösung. Den großen Verzicht. Das weise Lächeln für Sein und Nichtsein, für Haben und Nichthaben. Für ein Kind, das geboren wird, und für einen Greis, der zum Sterben sich anschickt. Vielleicht hat der Buddha recht. Was wissen wir.
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