Die Zeitung des Als-Ob, die Presse des Als-Ob, die Träger jener öffentlichen Meinung, die ein großes Als-Ob ist. Garnichts anderes sein will.
Leonhard Glanz glast in die Zeitung. Die Zeit zerrinnt und manchmal schaut ihn der Kellner in weißlich-schmutziger Leinenjacke an, manchmal der Ober im Frack und schwarzer Krawatte. Wie weit mag die Uhr vorgerückt sein? Vielleicht ist Mittagszeit. Vielleicht sollte man etwas essen. Leonhard Glanz hat keinen Hunger. Obwohl er nicht eben reichlich gefrühstückt hatte. Und das ist schon geraume Weile her. Keine Bewegung freilich, aber der Schreibtischmann war immer an bewegungslose Geschäftigkeit gewöhnt. Sein Magen war in Ordnung. War es jedenfalls immer gewesen. Und doch widerstrebte ihm der Gedanke an das Essen. Sollte er in eines der zahlreichen Automatenrestaurants gehen und ein Paprikagulasch essen, mit Knödel? Oder ein ungarisches Gulasch mit Kartoffeln? Wie ihm das widerstand. Oder sollte man dahier einmal besser speisen? Etwas Leckeres? Brathuhn mit Pommes frites? Wie satt er war. Woher denn nur? Oder Kalbszunge in Madeira? Angegessen bis dahinauf. Angefressen an dicker Pampe. Gelbes Erbsenpüree mit Zwiebel und Kochwürsten. Große Graupen mit Pflaumen. Gefüllte Milz mit Petersilienkartoffeln. Fetter Schweinemagen mit Mehlknödel. Ölig schimmernde Blutwurst mit Sauerkraut. Kuttelflecksuppe mit eingebrocktem Brot. Speckknödel mit süßlich dampfendem Kastanienpüree. Kalbshaxe mit großen Bohnen, mit sauren Linsen, mit Grünkohl und Bratkartoffeln, Hammelfleisch mit gelbem Fett und weißem Kohl. Roter Kohl mit Apfel und Rosinen gedünstet. Und schwarzes Bier, gezuckert und darüber geschwemmt. Bläulich-grün schillerndes, weißliches Fleisch, das ist Walfischkarbonade. Mit Kornschnaps. Bis da hinauf. Abgrundtief. Pampe.
Der Bauch ist eines. Und das Hirn ist ein anderes. Hatte nicht Leonhard Glanz bisher immer geglaubt, auf den Bauch käme es an? Nur auf einem gesunden Bauch kann ein gesunder Kopf sitzen. Irgendwie so hat es einmal ein großer Dichter gesagt. Aber die Regel lässt Ausnahmen zu. Leonhard Glanz hatte stets Wert darauf gelegt, kein Prinzipienreiter zu sein. Das bewährte sich nun an diesem Normalmenschen, den die Zeitläufe in den leeren Raum geschleudert hatten, dem er nun, aus dem eingeborenen Bestreben aller Natur, keinen leeren Raum dulden zu wollen, eine Füllung zu geben bemüht war. Dabei entstand Unordnung und Wirrnis. Unteres musste nach oben gelangen, es musste ein wenig drüber und drunter gehen. Ein heute kärglich Gespeister saß da, magenvoll, stopfte sich mit Zeitungslektüre an, die in seinem Hirn aufquoll, teils zu riesigen Seifenblasen, die im buntesten Schillern zersprangen, nichts hinterlassend, als ein graues Gerinnsel fader Erinnerung, teils auch zu neuen, leeren Räumen, die nach Füllung verlangten, gleich leeren Gasometern, leeren Wassertürmen, leeren Getreidesilos. Umbau oder Neugeburt? Die Zeichen waren ernst, wenn sie auch nach außen sich nur in der unscheinbaren Bewegung äußerten, dass ein ganz normal Zeitung lesender Mann, ohne sonderliche Hast oder Weile ein Zeitungsblatt umschlug und auf der anderen Seite weiter las.
Der Gesandte der USA in Berlin, so liest er, hat wegen des zum Tode verurteilten Helmut Hirsch interveniert, nachdem sich herausgestellt hat, dass dieser junge Mensch tatsächlich Amerikaner sei und die USA auch seine Staatsbürgerschaft anerkannt haben.
Helmut Hirsch, so erinnert sich das blasentreibende Hirn des magenschweren Mannes Leonhard Glanz, war doch dieser junge Fanatiker, der den deutschen Führer hatte ermorden wollen. Er erinnerte sich sehr wohl. Um diesen Verbrecher, der mit zwei Höllenmaschinen nach Deutschland angereist gekommen war, um so, mir nichts – dir nichts, Hitler zu ermorden, um diesen Verbrecher hatte es drüben noch ein großes Spektakel gegeben. Sonderbar, es widerstrebte Leonhard Glanz diesen Mann einen Verbrecher zu nennen, obwohl es drüben keine Zeitung gegeben hatte, keinen Mann auf der Straße, der das nicht sagte. Dass ein amerikanischer Diplomat interveniert, das bestätigt Leonhard Glanz in seinem Gefühl. Helmut Hirsch hatte den Führer ermorden wollen. Also war er nach deutschem Recht, dass kein Gesetz braucht, zum Tode verurteilt worden. Aber hatte er denn morden wollen? Ja. Dazu hatte er doch zwei Höllenmaschinen mitgebracht. Aber hatte er sie denn mitgebracht? Ja. Sie sind sichergestellt worden. Sichergestellt von wem? Von der Gestapo. Ach so.
Da war schon mal einer zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, der damals an jenem ominösen 9. Februar mit nichts bewaffnet, als einem gefälschten Mitgliedheft der Kommunistischen Partei und einer Schachtel Zündhölzer, das Berliner Reichstagsgebäude in Brand gesteckt hatte. Hölle und Teufel, brüllten die Nazis und handelten so. Hölle und Teufel machte die Deutsche Volkspartei mit und die deutschen Stahlhelmpatterjohten. Obwohl ihnen schon anfing vor der eigenen Courage, die ihr persönliches Ende wurde, bange zu sein. Und die anderen? Saßen da, die Hosen nicht nur mit Angst erfüllt, und versuchten noch lauter zu brüllen als die Ersten, wobei nur ein klägliches Meckern hervorkam. So spielten sie zum letzten Mal Als-Ob. Wer war das noch? Das war die Deutsche Demokratische Partei, werter Herr Leonhard Glanz. Aber ja. Zu ihrer Entlastung sei es gesagt, auch der allzeit so feste Turm des katholischen Zentrums und die reichsgebannerte, sozialdemokratische Partei, die keinen Strick ungedreht ließe, an dem man sie hätte aufhängen können und auch gehenkt hat und alles, was da zwischen diesen Partiewaren-Parteien herum firlefanzte. Erinnern wir uns nur, ohne Groll im Herzen. Weil wir doch ganz etwas anderes zu tun haben. Merkst du was, Leonhard Glanz? Geht dir noch kein Lichtlein auf im Dämmerhirn, da doch die ganze Pampe dir in den Magen gerutscht ist? Oder muss auch das erst hinaus? Eine Zeitung ist doch kein römisches Vomitorium. Oder doch?
Damals hatte kein fremder Diplomat interveniert, obwohl dergleichen damals vielleicht noch irgendeinen Effekt gehabt hätte. Aber damals … Man muss es der Umwelt schon konzedieren. Damals war sie noch so guten Glaubens, als ob sie guten Glaubens gewesen wäre.
Jetzt aber interveniert ein Diplomat. Im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist etwas. Der Mann mit dem weitdenkenden, politischen Verstand, der erste Napoleon von Frankreich hatte das schon klar erkannt. George Washington war der Mann seiner Sehnsucht. Bis 1917 hatte sich das allerdings noch nicht bis nach Deutschland herumgesprochen und 1937 brauchte man im Deutschland des Dritten Reiches überhaupt nichts von dem zu wissen, was jenseits der Grenzen liegt. Außer was man fressen oder mit Krieg überziehen möchte. Und da interveniert also ein Mann im Namen der USA. Ein immerhin größerer Mann.
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Da ist ein kleiner kleinerer Mann. Ein einfacher Schlächtermeister in Magdeburg. Nicht eigentlich klein von Statur, sondern eher etwas über Mittelgröße, wohlproportioniert, mit Ansatz zu quellendem Bauch, was ihn gedrungener erscheinen lässt, als er wirklich ist. Ein wohl gemästeter Mann aus gutem Fleisch und wenig Fett. Ein ausgewachsener Beefsteak- und Roastbeeffresser. Dreimal des Tages, zumeist Gebratenes, aber nicht ganz durchgebratenes Fleisch. Das Rote muss noch zu sehen sein und rötlich muss es noch herunter träufeln.
Dieser einfache Schlächtermeister liest in der Zeitung von dem intervenierenden Schritt des amerikanischen Diplomaten, während dabei Zorn und Gram in sein Herz einziehen. Und dieser Mann, der nie gewusst hat, wozu ein Diplomat in der Lage ist, begehrt auf.
Hermann Hutt, der Schlächtermeister, sitzt in dem ledernen Klubsessel, dem einzigen modernen Möbelstück in seine Wohnstube mit den verstaubten, einstmals grünlichen Plüschmöbeln. Ganze Stunden des Tages verbringt er in dem Sessel. Eigentlich sitzt er immer da, wenn er nicht am Schlachthof ist, und schaut ab und zu durch die runde Scheibe in der Tür in den Laden, wo der Gehilfe den Kundendienst versieht und der Lehrling. In den Laden geht Hermann Hutt nicht gern. Die Kunden schauen ihn immer so sonderbar an.
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