Die geistigen Dinge, mein Herr, warum so kompliziert, die geistigen Dinge sind die Theorie des Lebens. Theorie muss auch sein. Ich habe da was, als ob es eine Theorie sei.
Aber die Praxis. Auf die Praxis kommt es an. Wir wollen nicht als etwas erscheinen, wir wollen etwas sein. Nicht mehr erscheinen als wir sind, sondern genau sein, als ob wir etwas wären.
Das ist doch ganz einfach. Mit den geistigen Dingen fängt es an und mit den Dingen des täglichen Gebrauchs hört es auf. Alles als ob. Alles prima. Alles schick.
Taxi auf Stromlinie, als ob es ein eigener Wagen sei. So fahren wir durch die Welt. Als ob sie uns gehörte.
Ich bin von Kopf bis Fuß auf Als-Ob eingestellt. Ich trage meinen Papierkragen, als ob er Leinen sei. Mein Filzhut ist aus gebackenen Wollresten. Meine Crêpe de Chine-Krawatte aus Kunstseideersatz. Die lila Streifen in meinem Hemd sind hinaufgedruckt. Und so weiter, bis zu den Gummihacken unter dem Einheitsschuh. Meine Frau hat Pleureusen aus Baumwollfäden auf dem Hut und eine lederne Handtasche aus Pappmaché. Sie trägt einen Elfenbeinschmuck aus weißlackiertem Laubsägeholz, einen Schildpatt-Kamm aus Galalith und klebt die ausgerutschten Maschen im baumwollenen Florstrumpf. Unser Mahagoni-Schlafzimmer auf Abzahlung ist aus Tannenholz mit Weichsel furniert. Unsere Baccarat-Obstschale aus nachgeschliffenem Pressglas und der Kaffee, den wir trinken, ist zwar braun, aber von gebranntem Korn, außer wenn wir Besuch haben. Kinder? Nein. Wir sind doch keine Proleten. Wissen Sie, ich hätte schon gerne gewollt. Aber meine Frau wollte lieber einen Eisschrank. Vielleicht nächstes Jahr.
Das ist die gerade Linie des Als-Ob: Von der Margarine auf dem Brot, als ob es Butter sei – während doch ein Bürgermeister einer großen amerikanischen Stadt einen Erlass herausgeben musste, damit nicht mehr so viel Milch in den Fluss gegossen werde, dass die Fische sterben, wobei vom Sterben der Säuglinge und Kinder infolge Unterernährung nicht die Rede war – bis zu dem spanischen Weißbuch, das auf allen Seiten die Tragödie des schändlich verratenen, zerschlagenen, in Fetzen gerissenen Völkerrechts feststellt, und von dem der Völkerbund offiziell Kenntnis zu nehmen nicht für opportun hält. Das ist eine gerade Linie, und die führt weiter und weiter, bis …
Auf dieser geraden Linie muss die Politik sein, wie sie ist, – kleiner Moritz, – und die erste Seite des Hauptblatts aller opportunistischen Zeitungen der Welt muss ausschauen, wie sie ausschaut. Als ob sie die Wahrheit sagte. Die Wahrheit, von der man hier ein Wort fortlässt und da eines hinzugibt und keiner kann sagen, ob eine neunzig-, achtzig-, siebenzig-, sechzig-, einundfünfzig-, neunundvierzig-prozentige Wahrheit nicht immer noch die Wahrheit des Als-Ob sei.
Da haben wir ja noch den Leitartikel. Erste Spalte links, an den übrigen Wahrheiten entlang und da steht gerade:
»Was man heut zu Tage Politique nennet, ist mehrenteils so verkehrt, daß man es mit Recht Filoutique nennen könte. Denn stehlen und betrügen, wenn man nicht, oder doch schwerlich kann ertappet werden, wird zum Unterschiede des groben und öffentlichen Diebstahls, eine Scharfsinnigkeit und Klugheit genennet, und man nennet wohl gar die, so darin sich auszeichnen, galants Maitres. Wenn man solcher Leute ihre politische Finessen und Staats-Intriguen unparteiisch examinieret: so wird man befinden, daß sie dadurch ihrem Nächsten mehr schaden, als die öffentliche Filous. Denn oft werden redliche Leute, durch falsche Complimente und Conteflationes, wodurch man bey jedem Wort, wider das Gewissen, unverantwortlich lüget, um Ehr und Gut gebracht, und ein solcher Betrüger lachet in sein Fäustchen, daß er andere so bey der Nase herum führen, seinen Nutzen und Vorteil von ihnen ziehen und selbige dafür mit leeren Hoffnungen abspeisen kan. Mit einem Wort, oder kurz zu sagen, die verkehrte Politique … bestehet meistenteils in Wind, leeren Worten und listigen Vorstellungen, dergestalt, daß sie den Betrug in den Armen, und die Falschheit auf dem Rücken trägt.«
Dieser Leitartikel stammt freilich nicht von einem berufenen Leitartikel-Redakteur dieser Zeit, sondern er stammt von dem deutsch-römischen Kaiser Heinrich VI., ward im Jahre 1195 verfasst, ward im Jahr 1751 in einem Band »Staats-Gespräche« zu Erfurt abgedruckt und erhellt daraus welch einen barbarischen, unermesslichen Rückschritt diese Welt gegen das Jahr 1751, in dem derartiges noch abgedruckt und gar gegen das Jahr 1195 getan, in dem das gesagt und aufgeschrieben werden konnte. Von einem Kaiser, wohlverstanden, der immerhin damals die pyramidale Spitze der herrschenden Klasse von Europa und angrenzende Bezirke war.
Und nun liest so ein Leonhard Glanz die »Complimente und Conteflationes«, wodurch »bei jedem Wort wider das Gewissen unverantwortlich gelogen« wird, als ob zwei mal zwei tatsächlich fünf sei. Als ob Banditen aufgehört hätten Banditen zu sein, nur weil sie Macht ihres Banditentums imstande sind, fünfzig oder hundert Millionen Menschen auf einmal in die Fresse zu schlagen. Als ob die wider jedes Kriegsrecht – das ist auch so ein Wort, Kriegsrecht – in Guernica von blutsäuferischen, tobsüchtig gewordenen Berufsmördern erschossenen, zerschmetterten, zerfetzten Kinder und Frauen dadurch wieder zum Leben erweckt würden, dass die feigsten Schurken der registrierten Kriegsgeschichte nachher behaupten, dass sie es nicht gewesen seien. Und alle opportunistischen Leitartikler ihnen die Hehler machen.
Hatte sich der Mann Leonhard Glanz nicht schon beizeiten daran gewöhnt, an nichts zu glauben? Zuerst hatte er den sogenannten Glauben seiner Väter abgelegt, als es nicht in der Mode war, orthodoxer Jude zu sein. Er wurde ein liberaler Jude, der mit Behagen frische Schinkensemmeln aß, wenn ihm der Appetit darauf stand, und der nun noch einmal im Jahre in den Tempel ging, am Versöhnungstag, mit Gehrock und Cylinderhut. Dann legte er gewisse moralische Vorurteile ab und etliche sogenannte Sittlichkeitsbegriffe auf sexuellem Gebiet, weil er sich ja schließlich nicht von jedem bettseligen Kleinmädchen sagen lassen konnte, dass er Hemmungen habe. Und damit waren die Möglichkeiten seines Glaubens und seiner Revolutionen gegen den Glauben erschöpft. Er glaubte nur noch daran, dass ein anständiger Kaufmann seinen Verpflichtungen nachzukommen habe, was sich dann in der Praxis als l’art pour l’art erwiesen hatte, und ferner an den Leitartikel des Tages, jeweils für vierundzwanzig Stunden. Erst in der Zeit von Deutschlands nationaler Erhebung hatte er auch den Glauben an die Heiligkeit des Leitartikels aufgegeben und – zu seiner Ehre – ihn in der Zeit seiner nun rund achttägigen Emigration auch nicht wieder zurückgewonnen. Er hielt sich an die Nachrichten. Denn Nachrichten sind Nachrichten, dachte dieser, von technischen Dingen des Zeitungswesens so garnichts verstehende Durchschnittsmensch.
Hier ein Wörtchen weg. Dort eines hinzu. Hier eine Zeile fett gedruckt. Dort ein Telegramm mit kleinster Schrift, petit, compress. Neunzig-, achtzig-, fünfundsiebzig-, fünfzig-, dreiunddreißig ein drittel-, zwanzig-, zehn- und nullprozentige Wahrheit. Keine Ahnung hat dieser glaubenslose Durchschnittsmann, dass gerade darin des tüchtigen Redakteurs Tüchtigkeit besteht, dass er, je nach dem ihm wohlbekannten Geschmack der Leser und des Verlegers, aus einem schmetternden Bombenwurf einen Furz machen kann oder einen Donnerschlag. Halten zu Gnaden. So gläubig ist dieser Durchschnittsmann. Denn Leonhard Glanz meint natürlich, dass eine Zeitung, wenn er sie definieren sollte, als ein literarisches Werk anzusprechen sei. Unter Ausschluss der Inserate. Aber sonst: Ein Werk. Dass er für seinen Zeitungsgroschen erwirbt. Ohne zu bedenken, dass er da manchmal ein Paket Papier erhält, das blank und weiß für einen Groschen nicht zu kaufen wäre. Und den ganzen Inhalt bekommt er gratis dazu. Die Nachrichten, den Leitartikel, das Neueste aus aller Welt, die lokalen Informationen, das Kreuzworträtsel, die Schachecke, die Witze samt Illustrationen, den Handelsteil, die Börsennachrichten, samt Anweisung, wie man in kurzer Zeit Millionär wird, Verkehrsnachrichten, Unterhaltungsteil und Gedichte mit Reimen am Ende, wissen Sie schon, dass der Skarabäus sechs Beine hat und nach dem Liebesakt vom Weibchen getötet wird? Der Anzeigenteil, die Toten der Woche und des Tages. Was heute vor hundert Jahren war. Wohin gehen wir am Sonntag? Sportbeilage. Annoncen. Annoncen. Annoncen. Theaterkritik und neueste Nachrichten, wer von den Filmstars mit wem schläft, die Mode zu ebener Erde, zu Wasser und in der Luft, Rezept, den bescheidenen Hummersalat für vierundzwanzig Personen anzurichten, fortschrittliche Gesinnung unter dem Strich, reaktionäre Gesinnung über dem Strich. Werter Abonnent, was Sie da von der zweierlei Gesinnung festzustellen belieben, entspricht nicht den Tatsachen. Unser Organ ist von jeher bemüht gewesen, überhaupt keine Gesinnung zu haben, wobei wir es auch in Zukunft hochachtungsvoll belassen wollen. Wer bezahlt das alles? Wenn du, normaler Zeitungsleser, doch knapp das Papier bezahlst. Die Setzer, die Drucker, das Blei, die Schwärze, die brandteuren Telegramme und Telefonate, die Expedition, die Administration, den Redaktionsstab, die Verlagsdirektion, die doch gut leben will, und die Mitarbeiter, die man nicht glatt verhungern lassen darf, weil man nicht nur von ehrgeizigen Oberlehrern und Großindustriellen Gratisbeiträge bringen kann. Wer bezahlt das alles? Die Annoncen, meinst du, die Annoncen. Im Vertrauen gesagt, die reichen zumeist auch nicht. Und darum sitzt der eigentliche Chefredakteur einer großen Zeitung im Vorsitz einer großen politischen Partei, oder in der Direktion einer Monstrefabrik, oder in einem Börsenratsgremium, oder in allen dreien zusammen und das nennt man in Frankreich »publicité« und dort weiß jeder, dass es so ist. Und anderweitig hat es keinen Namen und wird mit freundlichem Lächeln oder mit dem ganzen juristischen Apparat abgeleugnet, womit erwiesen ist – was? Dass Frankreich immer noch das demokratisch fortgeschrittenste, geistig freieste Land ist. Hommage à Voltaire.
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