»Da geht noch einiges ab«, prophezeite die einzige Frau am Tisch, die Juwelierin Analena Heuberg: »Wartet ab, was im Oktober erst los ist, wenn die Friedensinitiativen es schaffen, eine Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm zu organisieren. Das wird ein gigantisches Signal gegen die Aufrüstung. Da wird Kohl dran zu knabbern haben.«
Heiko Emmerich, der im Tennisoutfit gekommen war und sich einen delikaten Wurstsalat munden ließ, war als Verantwortlicher der Industrie- und Handelskammer um Mäßigung bemüht: »Der Wirtschaft tut ein Mann wie Kohl sicher gut. Warten wir ab, was sich entwickelt, vor allem, ob er es schafft, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.«
»Die Politik kann keine Arbeitsplätze beschaffen«, unterbrach ihn Siebeneicher energisch und wandte sich bewusst an Analena Heuberg, die Frau, die ihm überaus attraktiv erschien, jedoch bei diesen abendlichen Treffen seine Annäherung nicht erwiderte. »Die Frau Heuberg wird keine zusätzliche Juwelierin einstellen, nur weil jetzt Helmut Kohl an der Regierung ist«, keifte er, ohne eine Antwort zu erhalten.
Häberle verfolgte das Gespräch gelassen, obwohl es ihm nicht gefiel, zwischen der Ulmer Goldschmiedin und dem Autohändler Blaubart zu sitzen, der ihm aber schon bei früheren Zusammentreffen nicht sonderlich sympathisch erschienen war. Er hatte sogar schon mal recherchiert, ob Vorstrafen gegen ihn registriert waren. Erstaunlicherweise hatte es keine gegeben. Er nahm einen Schluck Weizenbier und stellte insgeheim fest, dass er in dieser erlauchten Runde zu den Jüngsten gehörte. Doch aufgrund seines sportlichen Engagements und seines Berufs war er angesehen und von allen akzeptiert.
Wie immer, wenn er in unregelmäßigen Abständen an diesem Stammtisch auftauchte, zu dem man sich einmal monatlich nach der Arbeit traf, galt das Interesse dem Fall, wie der Bankraub des vergangenen Jahres kurz genannt wurde. Arno Zumwinkel, der ebenfalls als äußerst sportlich galt, zumal er im Oktober vorigen Jahres am New York Marathon teilgenommen hatte, machte deutlich, wie sehr ihm als Banker die Geiselnahme am Herzen lag: »Kriegt ihr denn die Sache nicht gebacken? Oder waren die Täter wirklich solche Profis, dass ihr auf Granit beißt?«
Häberle fühlte sich an seiner Ehre gepackt. »Es vergeht keine Woche, in der wir nicht irgendeine Spur verfolgen. Außerdem hoffen wir noch immer auf einen entscheidenden Hinweis aus der Bevölkerung.«
»Von uns womöglich«, höhnte Niels Adamus, der wieder sein blaues Poloshirt trug, dessen Aufschrift ihn sogar in der Freizeit als Vertreter der Handwerkskammer auswies. Leutselig wandte er sich an Häberle: »Mensch, Herr Kommissar, Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass wir alle, wie wir hier sitzen, in großer Sorge sind, halb Göppingen könnte darin verwickelt sein.«
Häberle konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige gehaltvolle Getränke die Stimmung dieser Herrschaften angeheizt hatte. Nicht schlecht, dachte er. Vielleicht konnte er dem einen oder anderen ein paar interessante Worte entlocken. »Ich weiß nicht, wie hier über die Vorkommnisse des vergangenen Jahres gedacht wird«, begann er und wurde sogleich von Siebeneicher unterbrochen: »Wer wird denn da noch an Zufälle glauben, wenn ganze Familien ausgelöscht werden und jemand im Bodensee mit dem Auto untergeht und ertrinkt?« Und ironisch an Blaubart gewandt: »Ich hoffe, es war kein Auto von dir.«
Blaubart, der als Einziger am Tisch vornehm gekleidet war und rein äußerlich gar nicht zu den Freizeitsportlern passen mochte, zuckte mit einer Wange und sagte energisch: »Meine Autos rollen nicht von der Fähre.«
Siebeneicher gab sich erneut vorlaut: »Deine Autos eignen sich ja auch eher zu was anderem …«
Die meisten Männer am Tisch lachten lauthals, während Häberle keine Miene verzog und Analena Heuberg sich verwundert umsah, obwohl sie zu ahnen glaubte, worauf Siebeneicher anspielte.
Blaubart ließ sich nicht irritieren und hatte einen Seitenhieb auf Siebeneicher parat: »Sei doch du mal ehrlich: Nur Insider wissen schließlich, wozu Autos auch taugen.« Er warf dem Angesprochenen einen provokanten Blick zu, ohne ihn bloßstellen zu wollen. Deshalb beeilte er sich, einen anderen Aspekt anzusprechen: »Ihr solltet auch mal auf unsere amerikanischen Freunde achten. Nicht jeder GI ist ein strammer Soldat. Vergesst nicht, wir haben permanent rund 3.000 Amerikaner in der Stadt.«
»Was willst du uns damit sagen?«, hakte Heiko Emmerich nach.
»Dass sich darunter nicht nur Ehrenmänner befinden, Heiko. Es ist wie in jeder Bevölkerungsschicht: Ein gewisser Prozentsatz ist kriminell.«
»Na ja«, winkte Häberle ab, »falls Sie auf unseren Fall anspielen, kann ich Sie beruhigen: Die drei Gangster haben allesamt schwäbisch oder leicht badischen Dialekt gesprochen.«
Blaubart konterte: »Aber woher wollen Sie denn wissen, dass es nur diese drei Gangster gegeben hat? Wenn Sie nicht mal eine Spur von denen haben, könnten doch ohne Weiteres noch einige im Hintergrund gestanden sein.«
»Was bei dieser Vorgehensweise zu befürchten ist«, ergänzte Banker Zumwinkel und erntete kräftiges Kopfnicken der meisten anderen Stammtischler. Nur Häberle zeigte keine Regung.
Ein weiteres Dreivierteljahr später – man schrieb inzwischen 1984 – gab’s zwar im Kriminalfall nichts Neues, dafür aber bei der örtlichen Tageszeitung: Der bisherige Redaktions-Vize Manfred Grüninger übernahm die Redaktionsleitung von Doktor Wolfgang Schmauz, der in den Ruhestand ging. Schmauz war mehr als 30 Jahre lang der Chef gewesen. Schon ab 1948 hatte er als junger Mann die Lokalredaktion verstärkt, nachdem ihm, wie damals nach dem Krieg üblich, ein amerikanischer Presseoffizier auf den Zahn gefühlt hatte.
Dass er nun die Aufklärung des großen Sparkassenraubs nicht mehr journalistisch begleiten konnte, bedauerte er in diesen Tagen des Abschieds.
Der Fall wurde zwar keinesfalls zu den Akten gelegt, wie Soko-Leiter Zeller bei Anfragen immer wieder betonte, aber sogar bei der Göppinger Bevölkerung schien die Erinnerung an den spektakulären Überfall langsam zu verblassen.
Noch immer trat Kirstin im Luna auf, denn sie hatte hartnäckig allen Versuchen widerstanden, sich tiefer ins Rotlichtmilieu einschleusen zu lassen. Zwar hatte der Amerikaner einmal sogar mit Gewaltanwendung gedroht, doch Blaubart war energisch dagegen vorgegangen. Mittlerweile hatte er sich mit Lukas darauf geeinigt, sich auf andere Geschäfte zu konzentrieren. Immerhin schien der Amerikaner beste Beziehungen nach Osteuropa zu haben, was wiederum den Argwohn von Blaubart geweckt hatte. Einmal hatte er sogar eine Nachfrage riskiert: »Diese Geschäfte Richtung Osten vereinbaren sich mit deinem Job bei der Armee?«
»Das lass mal meine Sorge sein«, hatte Lukas geantwortet und angemerkt: »Die im Osten sind nicht nur das Reich des Bösen.«
Daran musste Blaubart aber denken, als er am 22. März 1984 die örtliche Tageszeitung aufschlug und im Lokalteil die Schlagzeile las: Seit 17 Jahren für die DDR spioniert: In Florida schnappte die Falle zu.
Seit über einem Jahr, so hieß es in dem großen Bericht, sei jeder Schritt eines Mannes überwacht worden, der nun in Tampa/Florida dem amerikanischen FBI ins Netz gegangen war. Es handelte sich um einen 43-Jährigen, der in einer Göppinger Nachbarstadt eine Kfz-Werkstatt betrieben hatte. Eine Kfz-Werkstatt, hallte es in Blaubarts Kopf nach. Die folgenden Sätze verschlang er mit rasendem Puls. Demnach war der Mann aus der DDR übergesiedelt und hatte mehrfach seinen Wohnsitz gewechselt. Zuletzt habe er in einer kleinen Ortschaft bei Göppingen in einem Dreifamilienhaus eine Wohnung gemietet gehabt. Seinem Geständnis zufolge sei er 17 Jahre lang Spion für den Osten gewesen.
Weiter hieß es im Text: Über seine Kfz-Werkstatt, die er seit fünf Jahren in einem ehemaligen Firmenkomplex bei Göppingen betrieb, knüpfte er Kontakte zu US-Soldaten, die sich ihre Fahrzeuge gerne bei ihm reparieren ließen. Mehrfach sei er in den vergangenen Jahren mit der Pakistan Airline von Frankfurt nach New York geflogen. Noch vor einigen Monaten hatten die Ermittler offenbar große Anstrengungen unternommen, um festzustellen, ob sich im Pass des Mannes auch Ostblockstempel befanden.
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