»Was soll jetzt diese Frage?« Rilkes ruhige Stimme verlor ihren sachlichen Klang. »Wollen Sie mir jetzt einen Vorwurf machen? Wenn das mit dem nummerierten Geld etwas genützt hätte, wären die Hunderter längst irgendwo aufgetaucht.«
Häberle überlegte kurz. »Natürlich können die Täter das Geld jetzt erst mal irgendwo bunkern, vielleicht einen Teil davon ins Ausland schaffen, zum Beispiel in die Schweiz, und dort auf einem Schließfach liegen lassen.«
»Ja natürlich. Wenn sie clever sind, werden sie’s auch so machen. Und vielleicht erst holen, wenn der Raub verjährt ist.«
»Nun ja«, hob Häberle abwägend die Arme. »So einfach ist das nicht. Je nachdem, wie es juristisch bewertet wird: räuberischer Menschenraub mit Geiselnahme. Das ist ein ziemlich großes Ding. Da kann die Verjährung erst nach Jahrzehnten greifen.«
Rilke rang sich ein Lächeln ab: »Gut angelegt können die 2,7 Millionen ganz schön Zinsen bringen.«
»Vorausgesetzt«, gab Häberle zu bedenken, »die Täter können so lange auf ihr Geld warten und die Zinsentwicklung bleibt günstig. Da bedarf es doch einiger Geduld, die solche Herrschaften meist nicht haben.«
Das Fotoshooting hatte genauso stattgefunden, wie von Kirstin gewünscht. Dass Blaubart ein begeisterter Hobbyfotograf war, kam ihr sehr entgegen. Vieles, was er aufgenommen hatte, war bei ihrer Kundschaft begehrt. Großformatige Fotos in Schwarz-Weiß und in Farbe konnte sie nach ihren Auftritten verkaufen. Außerdem hingen die Bilder in den Schaukästen der kleinen Rotlichtbars, die es wegen der strengen behördlichen Auflagen jedoch vermieden, allzu freizügige Fotos zu zeigen, trotzdem aber ihrem Publikum einen Hauch von Erotik und großstädtischem Nachtleben vermitteln wollten.
Blaubart hatte in einem diskret arbeitenden Fotolabor die Abzüge in Auftrag gegeben, die er jetzt vorsichtig in Klarsichtfolien schob. Dabei befiel ihn jedes Mal dieser eifersüchtige Gedanke gegenüber jenen fremden Männern, die auf diese Weise zu einem Besuch eines Nachtlokals animiert werden sollten. Eine Vorstellung, die er zu verdrängen versuchte, denn er wollte Kirstin mit niemandem teilen müssen – wohl wissend natürlich, dass es deren Job war, das männliche Publikum anzustacheln. Allerdings, davon war Blaubart überzeugt, blieb es in den Bars bei der Zurschaustellung der weiblichen Reize. Darüber hinaus, so hatte Kirstin ihm schon mehrfach versichert, sei mit ihr nichts anzufangen. Ob sie jedoch außerhalb des Etablissements lukrativen Angeboten widerstehen würde, daran hatte er gewisse Zweifel. Mehrfach schon hatte sie ihm von Versuchen berichtet, von professionellen Zuhältern angeworben zu werden. Blaubart hatte sie davor gewarnt, auf derartige Geschäfte einzugehen. Inzwischen fühlte er sich sogar ein bisschen als ihr Beschützer.
Gerade als er das letzte von zwei Dutzend Fotos verpackt hatte, wurde die Stille des Frühlingsabends von einem Motorengeräusch gestört. Er richtete sich auf seinem Bürostuhl auf, um aus der Fensterfront in den noch hellen Hof hinausschauen zu können. Ein schwarzer BMW der gehobenen Klasse war direkt an das Gebäude herangefahren. Stuttgarter Kennzeichen. Lukas, durchzuckte es Blaubart, schnappte die verpackten Fotos und ließ sie in einer Schublade verschwinden.
Der Mann, den man mit seiner großen, kräftigen Statur gemeinhin als Kleiderschrank bezeichnen konnte, stieg aus dem Wagen und eilte zur Eingangstür, die unverschlossen war, sodass er Augenblicke später in Blaubarts Büro stand und sich vor dem Schreibtisch aufbaute. »Jetzt hör mal, my friend«, begann er mit sonorer Stimme, während Blaubart tiefer in seinen Schreibtischstuhl zu versinken schien. »Wir sollten klare Verhältnisse schaffen«, fuhr Lukas mit hörbar US-amerikanischem Akzent fort und machte mit seinem Dreitagebart und den kurz geschorenen schwarzen Haaren keinen sympathischen Eindruck auf Blaubart. »Ich hab mir da etwas überlegt. Und vielleicht bist auch du zur Besinnung gekommen.«
Blaubart erhob sich langsam. »Was willst du von mir? Mich einschüchtern?«
Lukas kam einen Schritt näher. »Ist mir egal, wie du das siehst. Ich mach dir einen Vorschlag: We forget die Sache mit dem Auto. Dafür machen wir einen anderen Deal.«
Blaubart starrte dem Amerikaner in die Augen. »Und zwar?«
»Gebrauchtwagen für den Osten«, knurrte Lukas und steckte die Hände tief in die Taschen seiner olivfarbenen Jacke. »Du besorgst sie, ich bring sie hin. Sehr gutes Geschäft. Aber nur Nobelmarken.«
»Wie soll das funktionieren?«, war alles, was Blaubart über die Lippen brachte.
»Das überlass mal mir. Und noch etwas«, er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, »auch mit der Kirstin könnte was laufen. Die ist viel zu schade, um in einem Provinz-Striptease-Schuppen zu verkommen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Blaubart spürte einen Kloß in der Kehle. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Kirstin ist ein Goldschätzchen«, grinste Lukas überheblich. »Wir müssen sie nur ein bisschen auf Spur bringen. So sagt man doch, oder?« Weil Blaubart nichts erwiderte, lehnte sich der Amerikaner genüsslich zurück und ergänzte wissend: »Schöne Fotos hast du wieder gemacht. Du solltest sie nur nicht in verbeulte Autos setzen. So eine Beule lenkt vom Wesentlichen ab.«
Nach den neuerlichen Ermittlungen hatte Soko-Leiter Zeller einige Tage später seine Mannschaft in Stuttgart zu einer Besprechung zusammengerufen. »In Göppingen machen die wildesten Geschichten die Runde«, stellte er fest. »Unsere Aufgabe muss es deshalb auch sein, denen entgegenzuwirken.«
»Andererseits«, so warf sein Kollege Häberle ein, »kann man’s den Leuten ja nicht verdenken. Aber wenn erst bekannt wird, dass eine Sparkassenangestellte demnächst einen der Geldboten heiraten will, dann dürfen wir uns auf neue Schauergeschichten einstellen.«
»Nun mal langsam«, riet Zeller zu nüchterner Betrachtungsweise. »Es wäre sicher zu kurz gedacht, das Mädchen und den Geldboten als Drahtzieher des Ganzen zu verdächtigen.«
»Trotzdem sollten wir uns die Dame mal genauer ansehen«, warf eine Kriminalistin ein und erntete die Zustimmung des Soko-Leiters: »Meine ich auch. Und unser Kollege August«, er wandte sich an Häberle, »sollte sich noch intensiver in Göppingen umhören, wo er sich ja bestens auskennt.«
Häberle nickte. »Aber vergesst bitte nicht: Das alles liegt jetzt schon 15 Monate zurück.«
»Vielleicht gibt es ja doch einige Zusammenhänge zu den Geschehnissen der jüngsten Zeit«, meinte die Kriminalistin und zählte auf, was sie meinte: »Familiendrama, Fahrt in den Bodensee …«
»Bitte nicht schon wieder«, wehrte Zeller ab. »Halten wir uns an die Fakten und lassen uns nicht durch andere Dinge ablenken.«
»Aus den Augen lassen dürfen wir die aber nicht«, mahnte ein Älterer aus dem Kreis der Ermittler. »Schlimmstenfalls haben wir’s doch mit einer ganzen Organisation zu tun. Jedenfalls war die Sache so gut eingefädelt, dass wir bis heute nicht die geringste Spur haben. Das müssen wir uns eingestehen. Dass man nichts findet, aber auch wirklich gar nichts, das ist allein schon dubios genug.« Es klang wie ein Vorwurf gegen den wesentlich jüngeren Soko-Chef.
Häberle, der längst dafür bekannt war, auch quer denken zu wollen, meinte stirnrunzelnd: »Vielleicht sind wir schon auf einer Spur, ohne es zu ahnen.« Er blickte in verständnislose Gesichter und fügte an: »Ich misch mich mal in Göppingen unters Volk. Und schau auch mal bei dieser Sparkassenangestellten vorbei. Die wohnt in Lorch, nicht weit von Göppingen, im Remstal.«
»Im Remstal?«, echote einer der Ermittler, der die Diskussion, an der Wand lehnend, verfolgt hatte.
»Ja, Remstal«, bestätigte Zeller. »Und falls sich jemand hier im Saal mit der Geografie nicht so auskennt: Lorch liegt nur ein paar Kilometer östlich von Schorndorf, wo die besagte Hütte steht. Im Remstal.«
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