Die Versorgung der in einer alternden Gesellschaft wachsenden Gruppe älterer Patienten mit chronischen bzw. mehrfachen Erkrankungen ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass häufiger über längere Zeiträume Leistungen aus mehreren Sektoren – zeitgleich oder konsekutiv – benötigt werden. Für eine integrative Versorgung dieser Patienten, bei der die unterschiedlichen Leistungsanbieter sektorenübergreifend koordiniert zusammenwirken, stellen die existierenden regulativen und institutionellen Sektorengrenzen nach wie vor hohe Hürden dar. Ähnlich gestaltet sich die Situation für Patienten mit komplexen (z. B. psychiatrischen) Erkrankungen.
Die zweite Art von Schnittstellenproblemen betrifft die optimale Zuordnung von Patienten zu möglichen Versorgungssettings. Diese Aufgabe stellt sich immer dann, wenn Behandlungen sowohl ambulant als auch stationär durchgeführt werden können. Die sektorale Trennung der Versorgung kann nun bewirken, dass sich die Zuordnung nicht konsequent an den medizinisch-pflegerischen Patientenbedürfnissen orientiert, sondern primär durch anderweitige (regulatorische) Rahmenbedingungen beeinflusst wird. Hierzu zählen u. a. die freie Wahl der Leistungsanbieter und regional unterschiedliche Möglichkeiten des Zugangs zu Versorgungsangeboten sowie Unterschiede bei Vergütung und Mengenregulierungen. Ein Versorgungsdefizit ergibt sich dann, wenn infolgedessen ein gemessen an den Patientenbedürfnissen ineffizientes Behandlungssetting gewählt wird.
Diese Art von Schnittstellenproblem gewinnt im Zuge des medizinisch-technischen Fortschritts an Bedeutung, der es ermöglicht, dass bislang stationär durchgeführte Behandlungen zunehmend auch ambulant erbracht werden können. Verschärft wird die Situation durch den o. g. Umstand, dass Krankenhäuser vermehrt in der ambulanten Versorgung tätig sind und somit für eine wachsende Zahl von Leistungen beide Versorgungsformen »unter einem Dach« anbieten.
3.2 Bedeutung sektoraler Vergütungsunterschiede
Als Hauptursache der Schnittstellenprobleme im Bereich der sowohl ambulant als auch stationär durchführbaren Leistungen gelten die sektoralen Vergütungsunterschiede. Kritisiert wird eine fehlende Leistungsgerechtigkeit (vgl. Bock et al. 2017), denn die Vergütung gleicher ärztlicher Leistungen kann auch bei identischer Erkrankungsschwere der Patienten allein wegen unterschiedlicher Behandlungsorte (z. B. Arztpraxis, Krankenhausstation) stark variieren.
Es existiert eine Reihe von Hinweisen, dass Patienten in Deutschland zu häufig stationär anstatt ambulant behandelt werden und dass hierfür die sektoralen Vergütungsunterschiede eine wesentliche Ursache sind. So verweist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) darauf, dass in Deutschland das Potenzial ambulanter Operationen deutlich weniger erschlossen wird als in anderen Ländern (OECD 2018). Es gibt zwar einen Katalog ambulanter Operationen (AOP), die in gleicher Höhe und zu gleichen Bedingungen (keine Mengenbegrenzung, nicht budgetiert) vergütet werden, unabhängig davon, ob sie durch niedergelassene Ärzte oder durch Krankenhäuser durchgeführt werden. Aber erstens ist dieser Katalog veraltet und entspricht nicht mehr dem aktuellen Stand der Möglichkeiten für ambulante und stationsersetzende Eingriffe, 3 und zweitens können die im Katalog aufgeführten Leistungen auch stationär erbracht werden (Kategorie 1: im Einzelfall begründet, Kategorie 2: regulär), so dass hier die Anreizwirkungen der sektoralen Vergütungsunterschiede erhalten bleiben. AOP-Leistungen sind daher häufig Bestandteil vollstationärer Krankenhausbehandlungen mit kurzen Liegezeiten (Friedrich und Tillmanns 2016).
Nach stärkeren Zunahmen in den Jahren nach der Umstellung auf das DRG-Vergütungssystem ist die Anzahl ambulanter Operationen in den letzten Jahren insgesamt sogar leicht zurückgegangen (im Zeitraum 2011 bis 2018 um jahresdurchschnittlich 0,2 %), wobei einem leichten Anstieg im vertragsärztlichen Bereich ein stärkerer Rückgang in den Krankenhäusern gegenüberstand (
Abb. 3.1). Die geringen Anteile ambulanter Operationen in Deutschland wurden auch für einzelne Leistungsbereiche wie die Hernienchirurgie bestätigt und mit den Vergütungsunterschieden zwischen ambulanter und stationärer Durchführung der Operation begründet (Koch et al. 2013; Steger et al. 2019). 4
Die (zu) geringe Ambulantisierung von Krankenhausleistungen in Deutschland zeigt sich darüber hinaus in
• einer Krankenhaushäufigkeit (Anzahl akut-stationärer Krankenhausfälle je 100.000 Einwohner), die um mehr als 40 % über dem Durchschnitt von zwölf ausgewählten EU-Ländern liegt (ohne Geburten, psychiatrische Fälle und Rehabilitation; Loos et al. 2019);
• einem Anstieg des Anteils so genannter Kurzlieger (Verweildauer 1-3 Tage) von 27,4 % im Jahr 2000 auf 43,3 % (2017); 5
• einem Anteil so genannter ambulant-sensitiver Krankenhausfälle (ASK) (vgl. hierzu Albrecht et al. 2014, Sundmacher et al. 2015) in Höhe von knapp 20 % aller Krankenhausfälle (Loos et al. 2019).
Neben den intersektoralen Vergütungsunterschieden begründen auch die überdurchschnittlich hohen Krankenhauskapazitäten das große ambulante Potenzial in der stationären Versorgung in Deutschland.
Die sektoral getrennten Vergütungssysteme erschweren schließlich auch die Entwicklung innovativer Versorgungsformen, denn sie orientieren sich nach wie vor an den Kostenstrukturen der etablierten Organisationsformen (Krankenhaus einerseits, Einzelpraxis andererseits). Für die Sicherstellung der medizinischen Versorgung in ländlichen Regionen mit schrumpfender und alternder Bevölkerung fällt es aber zunehmend schwerer, die Versorgungsangebote in ihrer herkömmlichen Form aufrechtzuerhalten. Intermediäre Formen, wie sie z. B. das Konzept der Intersektoralen Gesundheitszentren mit erweiterter ambulanter Versorgung vorsehen (Schmid et al. 2018), lassen sich auf Basis der sektoral getrennten Vergütungssysteme nicht adäquat finanzieren. Die Erwartungen, dass die Entwicklung solcher innovativen Versorgungsformen Hand in Hand mit der Entwicklung innovativer Vergütungsformen im Rahmen eines selektivvertraglichen Wettbewerbs der Krankenkassen vorangetrieben wird, haben sich bislang nicht erfüllt.

Abb. 3.1: Entwicklung ambulanter Operationen in der GKV: Anzahl und Ausgaben nach Leistungserbringer, 1996-2018 (Quelle: IGES auf Basis von Daten des BMG (KG2- und KG3-Statistik))
3.3 Ausmaß und Gründe intersektoraler Vergütungsunterschiede
Das Ausmaß der intersektoralen Vergütungsunterschiede hat das IGES Institut in einer Studie im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) anhand ausgewählter Fallbeispiele dargestellt (Albrecht und Al-Abadi 2018). Ausgewählt wurden fünf Krankheiten bzw. Behandlungsverfahren, die sowohl stationär als auch ambulant (in einem Fall belegärztlich) versorgt werden können. Es handelt sich überwiegend um Fälle mit ambulant-sensitiven Diagnosen und nicht-operativer Behandlung, die einen geringen Schweregrad sowie unterdurchschnittliche Verweildauern aufweisen. Die Fallbeispiele zählen in der stationären Versorgung zu den 50 häufigsten Fallgruppen.
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Gegenüberstellung der Vergütungen für das Fallbeispiel nicht schwerer kardialer Arrhythmien und verdeutlicht das Vorgehen (
Tab. 3.1). Ausgangspunkt des Vergütungsvergleichs bildet die DRG-Fallpauschale (hier: F71B). Anhand der Daten des G-DRG-Browsers wurde ermittelt, welche Hauptdiagnosen und Behandlungsprozeduren am häufigsten zusammen mit dieser DRG dokumentiert wurden. Zu den häufigsten Diagnosen wurden vom Zi in Kooperation mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die in den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten abgebildeten Leistungsketten und die hierbei am häufigsten abgerechneten EBM-Ziffern nach inhaltlich-medizinischer Plausibilitätsprüfung ausgewählt.
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