Oliver Stapel
Orest im deutschen Herbst
Dieses eBook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Oliver Stapel Orest im deutschen Herbst Dieses eBook wurde erstellt bei
Teil 1. Fremde Teil 1. Fremde
1 Widewidewitt
2 Mutter
3 Vater
4 Spaziergang
5 Evel Knievel
6 Zuhause
7 Leere
8 Etwas mehr
9 Spaziergang
10 Party
11 Nachspiel
12 Sonntag
13 Freispiel
14 Freispiel
15 Weihnachten
16 Weihnachtliche Besinnungskrise
17 Gespräche
18 Stille
19 Dumdumdumdumdumdumdumdum
20 Peepshow
21 Ausschluss
22 Straße
Teil 2. *bestimmt
23 Exodus
24 Langeweile
25 Hobel
26 Spaziergang
27 Iffi
28 Das Urteil
29 Geburtstag
30 Beim Orakel
31 Medusa
32 Bang Bang, Otto, Schraubendreher
33 Zoroaster Herzklabaster
34 Vierundvierzig Tage
35 Grabschändung
36 Der letzte Spaziergang
Teil 3. Das Tagebuch des Heinz Witt
37 Die Einträge
Teil 4. Vertreibung aus dem Para-Mief
38 Hoher Gruselfaktor
39 How does it feel to be? (Like A Rolling Stone)
Impressum
Teil 1. Fremde
1 Widewidewitt
Und manchmal, wenn ich morgens beim Rasieren meine Orangenhaut oder einige Tupfer pinkfarbener Kopfhaut zwischen den silbrigen Strähnen meiner Schläfen sehe, die Falten um die schlaffen Wangen, die herabhängenden Mundwinkel, wenn ich dieses Eindrucks griesgrämiger Rechtschaffenheit gewahr werde, manchmal auch in der Straßenbahn, als Reflektion beim Herausschauen auf graue Straßen, auf die ein langweiliger Regen herabpieselt, oder auch nur im Vorbeilaufen an hell erleuchteten Schaufenster, in denen eine Farbe oder ein Glitzern für einen Moment meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen gelingt, wenn ich so meiner selbst gewahr werde, dann überkommt mich ein Gefühl der Unwirklichkeit, denn in der Welt, in der ich lebe, sind verschiedene Dinge anders, und ich mag es nicht, wenn sich fade Trivialität einschleicht, wie sie in den Gesichtern geschrieben steht, oder vulgärer Trübsinn, den ich nicht ausblenden kann, denn der Dialekt, den ich nicht umhin kann in der Straßenbahn zu vernehmen, wenn ich mit der 12 von der Konstablerwache zum Waldfriedhof fahre, ist so penetrant Hessisch, dass es mich mitunter schaudert und ich jenen ersten Satz wieder höre, den ich ihn sagen hörte, damals, vor fast 40 Jahren, als ich noch die ersten Haare an meinem Sack zählte, dieses runzlige Beutelchen, das sich immer öfter regte und zu wirren Phantasien führte, in denen ich wildfremde Frauen beglückte, auf mir nicht immer klare Art und Weise, denn ich hatte keine Ahnung, was da passiert, nur dass ich der Held war, dass ich sie aus einem brennenden Haus trug, oder aus einer zusammen stürzenden Ruine, und dass wir uns dann näher kamen, wobei ich mir ein Gesicht vorstellte, welches ich tagsüber vielleicht in der Bäckerei gesehen hatte, in der ich ein Brötchen mit einem Schokokuss drin kaufte, oder auf dem Schulweg an einer Kreuzung, wenn ich darauf wartete, dass die Ampel grün wird, und die braune Cordjeans vor mir bemerkte, die sich herzförmig rundete und mich noch nächtelang inspirierte, solcherart waren meine Phantasien zu jener Zeit, während er ganz sicher schon Nägel mit Köpfen machte, zumindest glaubten wir das durch die Bank, und als ich im Pausenhof zum ersten Mal mit den andern um ihn rum stand, rein zufällig sozusagen, als Nachzügler, das Gespräch war schon im Schwange, ich quetschte mich zwischen Alf und Mähne, das Gespräch war auf Heinz Witt gekommen, auch Heinzelwitt genannt, oder Widewidewitt, und er, noch keine zwei Wochen unter uns, urteilte mit der Sicherheit eines ganz Alten, auf Hessisch, das in der Idylle unserer vorderpfälzischen Kleinstadt einen Flair von weiter Welt erzeugte, Marburg, das klang nach Großstadt für uns, wir wären erstaunt zu hören gewesen, dass dort kaum mehr Einwohner lebten als in unserer Stadt, aber die Linken marschierten dort in Reih’ und Glied, wurde gemunkelt, die Studentische Linke zeigte den Spießern wo’s lang geht, und wir hörten davon mit all der Ehrfurcht, wie sie nur verwöhnte Müßiggänger dem Terror des Zielgerichteten entgegen zu bringen imstande sind, und die sich hauptsächlich als Neugier zeigte, als Wunsch, gut unterhalten zu werden, und das konnte er tatsächlich, sei es mit Erzählungen oder mit Urteilen, die er apodiktisch auf Hessisch sprach, so wie er es jetzt tat, „Das ist doch en Pissä!“ – und wir lachten über diese messerscharfe Kühnheit, die das Geheimnisvolle wie ein Schnurgestrick einfach durchhaute und uns von der Last befreite, einen Mitschüler noch länger ernst zu nehmen, der uns vor allem dadurch entnervte, dass er nicht die geringsten Anstalten machte, zu uns gehören zu wollen, der nicht nur allein blieb, sondern auch noch gerne allein blieb, und ich lachte am lautesten über diesen Ausspruch, den er, ein Zigarettchen drehend, gemacht hatte, „de Simbert“, wie wir ihn nannten, oder etwas verwegenener, „de Simbad“, mit bürgerlichem Namen Bert Simm, stämmig, die langen Haare aschblond gelockt, mit platter Nase in rundem Gesicht, aus dessen Augenschlitzen zwei hellwache Augen hervorblitzten, denen nichts entging und hinter denen ein unruhiger Geist sich bereits eine Meinung gebildet hatte, wo unsereins noch nicht einmal gemerkt hatte, dass da was war, das nach einer Meinung verlangte, und ich beschloss in diesem Augenblick, ebenfalls mit dem Rauchen anzufangen, so einfach werden Entscheidungen gefällt, und noch am selben Tag kaufte ich mir ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier, drehte ein Dutzend Kippen, bis die erste einigermaßen gerade war, Mutter kam genau in diesem Moment ins Zimmer, sah die Kippen auf meinem Schreibtisch, sah mich fassungslos an, diese aufgerissenen Augen stummer Theatralik, eines Tages würde ich sie Realität schmecken lassen, die sie wie Stahl ins Gehirn treffen würde, ich drehte und rauchte ein weiteres Dutzend, bis ich den ekligen Geschmack gerade so ertragen konnte, während ich mir vorstellte, wie ich lässig in der Gruppe stand und leicht gedankenverloren den Blick ins Unendliche schweifen ließ, wie einer, der mit dem Leben im Reinen war, der die anderen nicht mehr brauchte, sich aber dennoch zu ihnen rechnen ließ, und das ich, der ich die anderen mehr als alles in der Welt brauchte, der ich mich nach der Anerkennung der anderen verzehrte, der ich alles zu tun bereit war, um respektiert zu werden, selbst von dieser Clique arroganter Schnösel, die ihren gutmütigen Eltern auch noch das letzte Geld ihres kümmerlichen Einkommens abschwätzten, nur damit der Herr Sohn eine neue Jeans kaufen konnte, mit Fußweite, wie es jetzt schick war, und wenn ich ehrlich gewesen wäre, hätte ich mir eingestanden, dass es Heinz Witt war, nach dessen Freundlichkeit mich verlangte, dass es seine Meinung war, die ich zu hören interessiert war, wohl ahnend, dass ihn meine Oberflächlichkeit abstieß, fürchtend, von ihm gewogen und für zu leicht befunden zu werden, denn er war uns ein Rätsel, konnte eine Deutscharbeit dadurch bestreiten, dass er ausschließlich Kierkegaard zitierte, passend zum Thema, wo wir noch nicht mal wußten, wer Kierkegaard war, konnte seine Schulbücher statt im Ranzen oder einem Aktenköfferchen in einer Jutetüte zur Schule bringen, und weil wir ihn nicht verstanden, weil wir seine Überlegenheit als Gefahr für unser Selbstbewußtsein ausmachten, entschied ich mich für Menschen, die ich kaum kannte, deren Lachen über den Pausenhof schallte und Sehnsüchte weckte, die augenzwinkernd mit den Mädels flirteten und ihnen freche Sachen hinterher riefen, die für ihre Knätter sparten und Kataloge verglichen, die Bert Simm nicht wirklich brauchten, ihn aber, da er nun einmal da war und sich beliebt machte, in die Gruppe aufnahmen, während ich hin und her driftete, mal ein Buch las und mich davon anrühren ließ, mal mit den Kumpels in die Flipperhalle ging und am Evel Knievel spielte, der ich selten länger als zwei Wochen mit dem monatlichen Taschengeld auskam und der ich vor allem eins sein wollte: so wie die andern.
Читать дальше