Der Erzähler und Marie sind nicht länger selbstverständliche Hauptfiguren, deren Charakter einfach vorausgesetzt wird; vielmehr besteht der innerste Kern der Erzählung in der Suche nach den Umständen, die beide vorwärtsgetrieben haben bis zu dem entscheidenden Augenblick. Wie wird man Prostituierte? Die Frage nach der Entwicklung der Figuren wird zum eigentlichen Impuls. Ja, sie geht noch weiter: Wie entsteht das Bild von Liebe, Sinnlichkeit, Leidenschaft, das Marie durch alle gesellschaftlichen Klassen treibt? In Novembre nimmt Flaubert zum ersten Mal konsequent Abschied von der gewöhnlichen Vorstellung einer gleichsam natürlichen, voraussetzungslosen Liebe, und zum ersten Mal skizziert er die Idee, dass einer sich an gängigen Klischeebildern von der Liebe nicht nur berauschen kann, sondern sogar vergiften. Marie pflegt den massenhaften Konsum populärer Romane, und Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre, dessen Lektüre sie eines Tages mit Emma Bovary teilen wird, hat sie gar hundertmal verschlungen. Die Folgen sind verheerend. Ein weiteres sehr reales Phänomen findet Eingang in die Literatur: »Seit damals gab es für mich ein Wort, das unter den menschlichen Worten das schönste schien: Ehebruch [ adultère ], eine auserlesene Süße schwebt undeutlich über ihm, ein einzigartiger Zauber ziert es; jede Bewegung, die man macht, sagt es und kommentiert es auf ewig für das Herz des jungen Mannes, er berauscht sich ohne Ende, er findet darin die höchste Poesie, eine Mischung aus Verdammnis und Lust.« Das geheime Schlüsselwort der vergeblichen Liebe zu Élisa, inzwischen verheiratete Madame Maurice Schlésinger, hier wird es ausgesprochen. Der reale Wunsch, der in den verklärenden Mémoires nicht genannt werden durfte, hier offenbart er seine ganze Faszination. In einer entscheidenden Passage setzt der Erzähler seine und Maries Éducations sentimentales in einer gewagten Wendung gleich: »Ohne uns zu kennen, waren wir beide, sie in ihrer Prostitution und ich in meiner Keuschheit, den gleichen Weg gegangen, bis an den gleichen Abgrund«. Die Vereinigung von Keuschheit und Prostitution jedoch ist das Siegel des Heiligen. Große Heiligengestalten allein, Frauen und Männer, sind zu dem imstande, wofür in der abendländischen Kultur die Confessiones des heiligen Augustinus das kanonische Exempel sind. Flaubert jedoch, der kein Heiliger war und nicht einmal Christ, fasziniert etwas anderes an dieser Denkfigur, die jenseits der Grenze von Moral zu finden ist: Beide Figuren haben die Regeln der lauen Bürgerlichkeit seiner Epoche radikal und ohne Umkehr überschritten. Wer die Familie, deren Endzweck die Fortpflanzung ist und somit die Weiterexistenz des Menschengeschlechtes, zerstören will und nicht gerade zum Mord greift wie in Passion et vertu und »Quidquid volueris« , dem sind Ehebruch, Prostitution und Keuschheit die einschlägigen Mittel. Alles ist dem recht, der den Gesellschafts- und Generationenvertrag kündigen will, und an der Weiterexistenz des Menschengeschlechts nahm auch der empirische Flaubert nicht den geringsten praktischen oder theoretischen Anteil.
»Fragments de style quelconque«, »Fragmente im Allerweltsstil«, nannte Flaubert seinen Roman im Untertitel, und man kann sicher sein, der Sinn dieser Aussage ist sein gerades Gegenteil. In jenem Brief an Gourgaud-Dugazon vom 22. Januar 1842, mit dem er Novembre ankündigt, hatte er gerade diesen Roman zur entscheidenden Talentprobe erklärt: »Ich werde alles hineinlegen, was ich an Stil, Leidenschaft, Geist hineinlegen kann, und dann sehen wir«, und fortgesetzt: »Die Handlung ist völlig belanglos. Ich könnte Ihnen keine Analyse von ihr machen, denn sie besteht selbst nur aus psychologischen Analysen und Sektionen.« Der außerordentliche Rang dieser Briefstelle zeigt sich erst nach der Lektüre des Romans, denn in diesem Licht ist sie nicht weniger als das erste Aufleuchten der Poetologie des reifen Flaubert. Tatsächlich ist das Neue an Novembre , mit dem Flaubert sich nun von den Jugendwerken im engen Sinne löst, die konsequente Durchdringung von Stil, Analyse und Handlung. Und wenn Flaubert im Nachhinein diese Anstrengung als gescheitert ansah, dann weil er die Konsequenz nicht bis ans Ende trieb: Im Erzählfluss von Novembre wirkt jede Reminiszenz an frühere Eigenheiten bereits wie ein Fremdkörper. Flaubert nannte sein Werk einen Roman, doch seine Schwierigkeiten mit einem plausiblen Schluss beweisen, wirklich im Griff hatte er die große Form noch nicht. Das gilt sowohl für die Handlung als auch für die künstlerische Gestalt. Wenn der Erzähler nach der zweiten Begegnung mit Marie und deren langer Konfession in einem lakonischen »Ich habe sie niemals wiedergesehen« abbricht, dann ist das innerhalb des literarischen Werks psychologisch vollkommen unverständlich. Als Reflex auf das äußere Leben, nämlich den Abschied von Eulalie Foucauld beim Aufbruch von Marseille, wo diese zufällige Reisebegegnung 1840 stattgefunden hatte, scheitert die Szene jedoch an der unvollkommenen Transposition in den Roman: Was in der empirischen Realität durch die reine Tatsächlichkeit zwingend ist, verlangt in der Literatur seine eigene Logik.
Wahrscheinlich hat Flaubert von 1840 bis Oktober 1842 an Novembre gearbeitet, und wahrscheinlich hat er sich in diesen Jahren sogar noch schneller weiterentwickelt, als die Arbeit voranschreiten konnte. So hatte er, am Schluss angekommen, die ursprünglichen Voraussetzungen bereits überholt und wusste nicht recht, wie sein Werk sinnvoll zu beenden war. Mit dem Abschied von Marie hatte er das Wesentliche erzählt, und der Romancier fand in seinem Korb kein Material mehr für ein handwerklich befriedigendes Finale. Die plötzliche Einführung eines zweiten Erzählers, der das Manuskript nun seinerseits gefunden haben will, ist nur noch ein Theatercoup. Anders als bei dem deutlich erkennbaren Vorbild der Leiden des jungen Werthers ist diese Konstruktion hier eine nachträgliche Erfindung und bleibt deshalb ohne jede innere Konsequenz für den Aufbau des Romans selbst. Der Tod des desillusionierten Erzählers »allein durch die Kraft des Gedankens« ist seinerseits ein so krasser Rückfall in trivialromantische Muster, dass Flaubert seinen zweiten Erzähler diese Unglaubwürdigkeit gleich selbst entschuldigen lässt mit den Worten, »in einem Roman muss man das wohl hinnehmen, aus Liebe zum Wunderbaren«. Dass er sein Werk trotz aller Qualitäten nicht veröffentlichte, verlangt danach keine Erklärung mehr. Den 25. Oktober 1842 setzte Flaubert als Datum unter das Manuskript, bereits im Februar 1843 begann er mit der Éducation sentimentale den nächsten und nun auch letzten Versuch, des eigenen Lebenslaufs durch den Roman habhaft zu werden. Doch auch diese Niederschrift dehnte sich über mehrere Jahre, und sie umfasste die Momente, die für Flauberts weitere Existenz die definitiven Weichen stellte.
Tatsächlich bringen die Jahre von 1843 bis 1846 jene zwei Lebenskrisen, nach denen der junge Flaubert zum Flaubert der Literaturgeschichte wird: die Krankheit von 1844 und den Tod von Vater und Schwester 1846. Beide Krisen müssen zusammen gesehen werden, denn nach ihnen gibt Flaubert seinem Leben jene endgültige Form, die vollkommen am Schreiben ausgerichtet ist und sich nicht mehr ändert. Die äußeren Fakten sind oft genug berichtet worden: Im Januar 1844 war Flaubert mit seinem Bruder auf der Rückreise von Trouville nach Rouen. In der Nähe von Pont-l’Évêque fiel er, der im Wagen die Zügel hielt, plötzlich von der Bank. Achille glaubte an einen Schlaganfall und tat, was man damals tat, er ließ ihn zur Ader, und zwar, wie Gustave später erzählte, gleich dreimal. Die Diskussion über die Natur dieser Krankheit dauert an seit dem Tag, da Maxime Du Camp in seinen Mémoires littéraires als erster das Wort Epilepsie aussprach. Doch der Streit über diese postume Diagnose, allzu sehr geprägt von der Verteidigungshaltung gegenüber einer vermeintlich ehrenrührigen Krankheit, hat wenig Sinn, losgelöst von der Frage, was die Krankheit für Flaubert bedeutete. Die Attacke trat ein in einem Moment, der immer dringlicher nach einer existentiellen Entscheidung verlangte. Flaubert ist jetzt einundzwanzig Jahre alt. Seit 1842 studiert er in Paris die Rechte, genauso lange jedoch weiß er, dass er niemals einen juristischen Beruf ergreifen wird. Der Roman Novembre , den er zur entscheidenden Talentprobe erklärt hatte, war in seinen Augen gescheitert und unpublizierbar. Zwar weiß er trotzdem, dass er nichts anderes werden kann als Schriftsteller, doch den Beweis dafür ist er auch der Familie und der Gesellschaft immer noch schuldig, und er wird ihn noch schuldig bleiben müssen auf unabsehbar lange Zeit. Die Krankheit befreit ihn ein für allemal von diesen Sorgen. Nach der Attacke von Pont-l’Évêque ist von juristischen Studien in Paris und anderen Berufsplänen nie wieder die Rede. Gustave wird zunächst von Vater und Bruder kuriert, den Ärzten der Familie, dann unterzieht er sich einer langen Erholung in Rouen. Als Achille-Cléophas Flaubert später in diesem Jahr 1844 für seine Familie in Croisset am Ufer der Seine jenes Landhaus erwirbt, das später als Flauberts Gueuloir literarischen Weltruhm erlangt, hat er für dieses Leben auch räumlich die Weichen gestellt.
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