1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Diese Absätze sind ein außerordentliches Selbstzeugnis. Zum einen, weil sie nicht nur Flauberts eigenes Lebenswerk präludieren, sondern mehr noch eine wesentliche Tendenz des europäischen Romans schlechthin: die ästhetische Aufwertung der Romanprosa durch Stil, Sprache, Form und die Ablösung der alten Vorstellung des Romans als mindere, vor allem an der Anekdote interessierte Gattung. Der reife Flaubert wird seine Haltung nicht ändern, wie der Tagebucheintrag der Brüder Goncourt vom 17. März 1861 beweist: »Flaubert sagte uns heute: ›Die Geschichte, das Abenteuer eines Romans, das ist mir ziemlich egal. Wenn ich einen Roman mache, muss ich den Gedanken, eine Färbung, eine Nuance wiedergeben. In meinem Karthago-Roman zum Beispiel will ich etwas Purpurnes machen.‹« Zum anderen aber ist Flauberts frühe Aussage gegenüber Gourgaud-Dugazon verblüffend, wenn man bedenkt, was mit der »sentimentalen und verliebten Ratatouille« eigentlich gemeint ist: der erste umfangreiche, wirklich gelungene und konsistente autobiographische Roman Novembre . Seit 1838 nämlich hatte Flaubert sich intensiv einem neuen Thema zugewandt, dem eigenen Leben und der eigenen Entwicklung. Es war eine neue und entscheidende Phase jenes Selbstreinigungsprozesses, dem er sein Schreiben unterzog. Flauberts frühe Werke entsprachen noch ganz und gar jenem »landläufigen Begriff des Romans«, laut Walter Benjamins berühmten Worten ein »zusammengestoppeltes Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem«. Noch allzu viel war in diese Werke ungefiltert eingegangen von privaten Obsessionen und autobiographischen Reminiszenzen, und nun war für Flaubert die unvermittelte autobiographische Erzählung der Weg, sich ein für allemal von diesem Stoff zu befreien. Bemerkenswert allerdings und vielleicht Camouflage, dass er gerade diesen Stoff des eigenen Lebens als »völlig belanglos« abtun wollte; man muss es ihm nicht glauben.
Viermal setzte Flaubert zu seiner eigenen Geschichte an: 1837 mit dem Fragment La dernière heure , das vor den lebensentscheidenden Momenten abbricht, 1838 mit den Mémoires d’un fou , 1842 mit Novembre und 1843 mit der Éducation sentimentale , die ihn zwei Jahre lang, bis 1845, beschäftigen wird. Die drei letzten zählen dann bereits zum engeren Kreis von Flauberts Werk, doch bei keinem hat er einen Versuch zur Veröffentlichung unternommen. Umstritten ist schon das Genre: Sind es autobiographische Zeugnisse oder literarische Werke? Kann man, wie häufig geschehen, das Berichtete als Tatsachen aus Gustave Flauberts Leben verstehen? Die Antwort ist eindeutig: Der Leser hat vor sich drei Romane, deren Hintergrund nur durch Flauberts eigenes Leben verständlich wird, doch der Zirkelschluss, man habe es mit unmittelbaren Lebenstatsachen zu tun, verbietet sich trotzdem. Die Verwandlung von Leben in Literatur, das bestätigen Flauberts frühe Versuche, ist ein ästhetischer Transformationsprozess, dessen Umkehrung unmöglich ist; im Gegenteil: Nicht das Aufsuchen von nachweisbaren Lebenstatsachen, die selbstverständlich gerade in diesen Texten zu finden sind, gibt Aufklärung über das, was literarisch hier geschieht, sondern nur der Transformationsprozess selber, seine Variationen, Durchführungen, Reprisen des gelebten Lebens, das jetzt zum Stoff geworden ist. In keiner der drei frühen Erzählungen, die sich im Tatsächlichen zudem auch bedeutend unterscheiden, ist das empirische Individuum Gustave Flaubert zu entdecken; aber offen stellt sich der Schriftsteller Flaubert dar, wie er selbst sich sehen, verstanden wissen, als Schreibender konstituieren will. Autobiographisch ist nicht so sehr der Realgehalt von Literatur, autobiographisch ist das literarische Verfahren selbst.
Verblüffend wirkt nun vor allem eines, nämlich wie aus dem jungen Gustave in diesen Jahren endgültig etwas anderes geworden ist, der erwachsene Flaubert. Man staunt, wie ein Neunzehn- und Zwanzigjähriger die Rolle des abgeklärten, ironischen Misanthropen bereits so ausgezeichnet beherrscht, und man findet in seinen Tagebüchern Sätze, die man eher in den späteren Briefen aus dem »gueuloir« von Croisset gesucht hätte: »Bescheidenheit ist von allen Niedrigkeiten die überheblichste«, »Was die Moral im allgemeinen betrifft, ich glaube nicht an sie; sie ist ein Gefühl und keine notwendige Idee«, »Vom Menschen erwarte ich jedes erdenkliche Übel«, »Die Menschheitsgeschichte ist eine Farce«. Alle drei Erzählungen beginnen in diesem Ton, die Mémoires d’un fou aber bereits mit einer fast Cioranschen Beschwörung der »letzten Grenzen der Verzweiflung«. Dieser Grundton ist es, was alle Werke dieser Jahre miteinander verbindet, die autobiographisch getönten wie die anderen, denn Flauberts Arbeit ist durchaus nicht konsequent und zielgerichtet, ist vielmehr ein Suchen und Versuchen in verschiedene Richtungen, in verschiedenen Genres und verschiedenen sprachlichen Registern. So entsteht zwischen den Mémoires und Novembre neben anderem auch Smar , der erste Vorläufer des lebenslangen Schmerzenskindes Tentation de saint Antoine , also ein groß orchestriertes Mysterienspiel, mit seiner allegorischen Bildhaftigkeit dem versuchten Realismus der Selberlebensbeschreibungen vollkommen entgegengesetzt. Dieses Schwanken zwischen ganz und gar verschiedenen Schreibweisen mag bei einem jungen Schriftsteller am Anfang seines künstlerischen Weges normales Zeichen sein für den noch nicht gelungenen Durchbruch zum Eigenen, bei Flaubert, einem Autor, dessen vollendete und reifste Werke Madame Bovary , Salammbô , L’Éducation sentimentale , La Tentation de saint Antoine und Trois contes heißen werden, reicht diese Erklärung kaum aus. Nein, im Nebeneinander von Smar und Novembre , der frühen Éducation sentimentale und des ersten Saint Antoine zeigt sich bereits die Konstante von Flauberts Lebenswerk; das Entscheidende seiner Ästhetik wird weder in der Handlung als solcher liegen, in ihrer Nähe oder Ferne zur Gegenwart, noch im realistischen oder allegorischen Wesen des Erzählens.
Diese Flaubertsche Eigenheit führt zu einer paradoxen Tatsache: Die Mémoires d’un fou sind von den frühen autobiographischen Versuchen das am wenigsten realistische Buch und zugleich dasjenige, in dem am meisten aufzufinden ist von dem wirklichen Flaubert jener Jahre. Diese Erzählung eines Siebzehnjährigen ist zunächst der poetische, literarisierte Ausdruck einer Seelenverfassung, wie sie die romantische Epoche liebte: Der Überdruss an der Trivialität des Alltags und die Faszination durch Byron, Shakespeare und Goethes Werther , das Leiden an der Abwesenheit von Liebe und die herrische Verwerfung derselben Liebe, nichts davon ist originell. Doch die traditionelle jugendliche Lebensmüdigkeit steigert Flaubert noch durch seine eigentümliche Betonung des verfrühten Alterns: »Später werde ich Ihnen all die Phasen dieses trübsinnigen und meditativen Lebens erzählen, das ich mit verschränkten Armen neben dem Kaminfeuer verbrachte, mit einem ewigen Gähnen der Langeweile« – dies die Worte eines Siebzehnjährigen, der in der Haltung eines desillusionierten, eine lange und große Vergangenheit kontemplierenden Zynismus seiner »alten, verdorbenen Gesellschaft« und dem »Misthaufen, den sie ihre Schätze nennt«, das Urteil spricht: »Alles verlangt die totale Zerstörung.« Und auch die Ausweitung in einen kosmologischen, metaphysischen Nihilismus, die Metaphorik von Tod und Vergänglichkeit, nichts davon ist unbekannt in Flauberts Jugendschriften. Was jedoch neu ist in den Mémoires d’un fou , das ist ein Motiv aus der eigenen Biographie: die unmögliche Liebe. Ein anderes Bild des Eros wird es in Flauberts Lebenswerk nicht geben, und hier, im Jahre 1838, erscheint es zum ersten Mal.
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