Oberassistent Lorenz With und Gattin ist das große Leid widerfahren, Vinka, ihre jüngste Tochter, im Alter von nur elf Jahren zu verlieren. Vinka wurde auf dem Weg zur Schule von einem ins Rutschen geratenen Lastwagenzug gerammt und starb auf der Stelle.
Die Haushälterin Dagmar Sinding ist, zweiundsechzig Jahre alt, nach längerer Krankheit gestorben. Dagmar Sinding stammt aus Roslev in Salling und wurde dort auf mehreren großen Höfen in Haushaltsführung ausgebildet. 1937 kam sie in das Haus des Automobilhändlers Vistisen; anfangs als Köchin und nach dem Tod von Frau Vistisen im Jahre 1942 als Haushälterin. Dagmar Sinding war in weiten Kreisen wegen ihrer schönen Gesangsstimme bekannt und viele Jahre lang Mitglied des Kirchenchors.
Der frühere Chausseewärter Hans Sørensen ist siebenundachtzigjährig verstorben. Er kam aus einer Chausseewärterfamilie in der Gegend von Holstebro.
Als Ole Kindbjerg am Donnerstagmorgen aus dem Tor fuhr, war er bereits gut sieben Minuten verspätet aufgrund eines Streits mit Ellen, seiner Frau, die kurz von der Treppe winkte und reinging, während er rausfuhr.
Er sagte mehrmals: »Zum Teufel!« — auch zu sich selbst, wobei er gleichzeitig versuchte, in seinem Bewußtsein die Route aufleuchten zu lassen und sich vorzustellen, was die verschiedenen Kunden an Käse, Salaten, Wurst und abgepacktem Aufschnitt kaufen würden, und es mit dem zu vergleichen, was er eingepackt und vom frühen Morgen an zusammengezählt hatte, bis ihm das Ganze durcheinandergeriet, weil Ellen kam und fragte, ob sie am Abend in die Stadt fahren und ihre Eltern besuchen könnten. Er hatte geantwortet, ihre Eltern könnten ihm gestohlen bleiben, während er die Gläser mit mariniertem Hering zählte, sich aber bei sieben verhedderte und einfach nicht weiterkam. Es waren sieben und blieben sieben.
»Nun wart doch mal«, hatte er gesagt, als sie entgegnete, er könne ihr auch bald gestohlen bleiben.
Konnte ein Glas marinierter Hering, auf so kurze Distanz geworfen, einen Menschen erschlagen?
Sie hatte dagestanden und ihn mit ihrem bösen Starren gestört, als er von vorn anfing und bis elf zählte und sich die Zahl in seinem Lagerverzeichnis notierte.
»Ja«, sagte er dann, »das können wir ja, aber ich bin nicht vor sieben zu Hause, heut ist Donnerstag.«
Ob er sich denn nicht beeilen könne?
Schon, aber er sei ja jetzt schon mehrere Minuten zu spät dran, weil sie ihn störe. Und dabei sei dies doch für ihn ein wichtiger Tag. Der Fleischer sei heute auch unterwegs, und käme der zuerst, na ja, dann sinke der Umsatz, und finge es erst an zurückzugehen, ja, dann ginge es schnell zum Teufel, die Kunden würden stets mithelfen, einen Kaufmann auf den Hund zu bringen, wenn er sich auch nur das geringste Anzeichen anmerken ließ, daß er sein Geschäft nicht auf zufriedenstellende Weise führen könne.
»Wir lassen es«, sagte sie auf dem Weg zurück zum Haus.
»Warum denn?« wandte er ein. »Das sagst du immer. Kannst du dich denn nicht ein bißchen nach mir richten?«
Hätte sie jetzt bloß nicht diesen Halbtagsjob in der Arbeitsvermittlung, dann würde alles besser gehen. Vielleicht.
»Wir lassen es«, sagte sie, als er die Waage in den Warenraum des Lieferautos stellte, den sie am Abend zuvor saubergemacht hatte.
»Ach«, sagte er, »ob nun heute oder an einem anderen Abend, das bleibt sich doch gleich.«
»So«, sagte sie.
»Ja«, sagte er, »warum nicht?«
»Weil du unmöglich bist.«
»Soll ich mich etwa nicht um mein Geschäft kümmern?«
»So wichtig ist das wohl auch nicht, daß du dich damit kaputt machst«, sagte sie.
So wichtig war das nicht.
»Die paar Käse, die du verkaufst«, hatte sie einmal spät am Abend gesagt.
»Schaffst du das denn?« rief er.
Das habe sie ja nicht gesagt.
»Was denn?« fragte er.
Daß er es ruhig angehen lassen solle.
»Nein, danke«, hatte er gesagt, als er ins Auto stieg. Es sprang sofort an.
Sie sah ein bißchen verzweifelt und ratlos aus, und so kurbelte er die Scheibe runter, als er anfuhr, und rief ihr zu: »Dann fahren wir also heut abend!«
Sie hatte die Mundwinkel verzogen, als sie die Treppe raufgegangen war. Und in ihm hatte sich die ganze Episode nun festgebissen. Well, er mußte sehen, daß er darüber hinwegkam. Er drehte sich auf dem Sitz um, während er durch die Straße rollte, wo der Textilwarenhändler im Begriff war, die Markise runterzulassen, und ihm dabei zuwinkte. Der Eisenwarenhändler stellte die Plasteeimer und Rasenmäher raus, und im Bäckerladen beugte sich die Verkäuferin über die Kuchenregale im Fenster und nahm für eine Frau vom Gemeindeamt vier Plunderstücke raus, die diese für den Vormittagskaffee um halb zehn haben wollte. Es wurde weiß Gott überall gearbeitet, wollte er meinen.
Von den elf Glas mariniertem Hering würde er zwei an die Frau des Tierarztes verkaufen. Sie wollten was zum Zuessen haben zu ihrem Schnaps (er hatte zwei Flaschen mitgenommen, falls bei ihnen zufällig Schmalhans herrschen sollte, obwohl er das nicht durfte; aber das war ja nur bürokratisches Gewese). Auf dem nächsten Hof kaufte die neue Frau, der sicherlich eine Firma in Kopenhagen gehörte, auf jeden Fall drei Glas (auch für sie hatte er eine Flasche mit, falls irgendein Mangel angedeutet werden sollte). Frau Petersen aß keinen Hering, aber auf dem nächsten Gehöft aßen sie auf jeden Fall ein Glas die Woche — zum Frühstück, weil der Mann von Seeland stammte; auf dem nächsten bestand keine Chance, und nun hatte er sich doch verrechnet, das war ganz offensichtlich, denn der alte Folketingsmann in der früheren Oberförsterei war verreist, nach Teneriffa oder Marokko, sie nahmen sonst jede Woche vier Glas. Die Frau war so nett. »Wollen Sie nicht einen Kaffee, Kindbjerg?« und in dem Stil. Aber sie waren nicht da. Das würde sich auch beim Käse und bei den russischen Krabben bemerkbar machen, von denen er ein paar Dosen mithatte. Doch bei den Salaten blieb es sich gleich. Sie aßen nur selbstgemachten Salat. Er mußte sich was einfallen lassen, um die Gläser mit mariniertem Hering loszuwerden. Sie waren fast schon überlagert. Der Fabrikstempel saß verdammt fest auf dem Etikett, und ohne Etikett konnte er sie nicht verkaufen. Er hatte es schon mit Radierwasser und allem versucht. Bisher hatte sich noch keiner beklagt, aber es war klar, daß Frau Petersen sofort Preisnachlaß haben wollte, wenn das Verbrauchsdatum überschritten war. Trotzdem, wenn er sich anstrengte, würde er allen Hering, bis auf zwei Glas vielleicht, verkaufen.
Er bog von der Landstraße ab und fuhr die schmale staubige Allee zur Tierarztfamilie hoch, das waren ein paar ungewöhnlich nette Leute, die jedoch Wert auf Qualität legten. Aber sie waren eine große Stütze. »Sie dürfen nicht aufhören«, sagte die Frau immer. »Wir können es einfach nicht missen, daß Sie angehupt kommen, Kindbjerg«, sagte sie. Sie sei ausgebildete Säuglingsschwester, hatte sie erzählt, aber die Gemeinde habe bis jetzt noch keine Kinderkrippe.
Der Tierarzt war nicht zu Hause. Die großen Tore der alten Scheune standen weit offen. Es kam ja darauf an, schnell rauszukommen, wenn ein Schwein ferkeln sollte. Schweine kosteten immer noch ein kleines Vermögen, und je größer sie wurden, desto mehr kosteten sie. »Wissen Sie, was ein Schwein im Laufe eines Jahres bringt, Kindbjerg?« hatte der Tierarzt ihn eines Tages gefragt, als sie zusammen ein Bier auf der Treppe tranken; es war so heiß an dem Tag. Und dann hatte er einen schwindelnd hohen Betrag genannt. Beinahe mehr, als eine Frau bei Halbtagsarbeit verdienen konnte. Doch das meiste davon mußte wieder investiert werden. Es kehrte zurück, schwoll aber trotzdem ein bißchen an, wenn man vorsichtig war.
Es blieb ja nichts weiter übrig, als zu versuchen, es in Gang zu halten, es sich etappenweise vorzunehmen, dann erreichte man stets flott sein Ziel.
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