Peter Seeberg - Der Junge ohne Namen

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Die Geschichte spielt an einem Ort in Jütland vor 1700 Jahren. Der Junge ohne Namen gehört zu den wenigen Menschen vom Stamm der Baummarder, ein Familien-Clan aus Jütland. Seit die Bauern den Wald gerodet und viele Tiere abgeschossen haben, leiden die Clan-Mitglieder allerdings unter dem Hunger. Der kalte Winter macht ihnen die Suche nach frischer Nahrung schwierig. Doch als dann endlich der Frühling langsam eintrifft, wird das Leben leichter und für den Jungen ohne Namen beginnt eine abenteuerliche Reise zum See der Kraniche…– «Der Junge ohne Namen» ist der erste, in sich geschlossene Band einer Trilogie («Der Junge ohne Namen», «Das Schiff der Fremden» und «Das Mädchen mit der Muschelkette»).-

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Peter Seeberg

Der Junge ohne Namen

aus dem Dänischen

von Lothar Schneider

Saga

Ebook-Kolophon

Peter Seeberg: Der Junge ohne Namen. aus dem Dänischen von Lothar Schneider. © 1990 Peter Seeberg. Originaltitel: Uden et navn. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016

All rights reserved.

ISBN: 9788711512623

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com- a part of Egmont, www.egmont.com.

Diese Geschichte spielt vor 1700 Jahren, zu einer Zeit, die man die römische Eisenzeit nennt. Die Gegend, die geschildert wird, ist die Halbinsel Jütland im heutigen Dänemark.

Damals war das Land längst von germanischen Stämmen besiedelt, von Bauern, die in Dörfern wohnten und Eisenwerkzeuge benutzten. Immer, wenn der Boden erschöpft war und die Ernten kleiner wurden, zogen sie weiter, rodeten anderswo die riesigen Wälder und errichteten neue Dörfer, und jedesmal wurden die Waldflächen und mit ihnen die Wildbestände kleiner.

Doch in den Wäldern und entlegeneren, unfruchtbaren Gegenden des Landes lebten noch andere Menschen, Jäger und Fischer, die sich nach wie vor ihrer alten Steinwerkzeuge bedienten. Sie waren die Verlierer der Geschichte, weil sie sich der «neuen Zeit» nicht anpassen wollten. Sie verhungerten allmählich, denn die Tiere, die sie jagten, wurden mit der Rodung der Wälder immer seltener, und Bauern werden wollten sie nicht.

Was dem «Jungen ohne Namen» widerfahren ist, ist kein einmaliges Ereignis. In ähnlicher Weise hat sich seine Geschichte durch die Jahrhunderte und auf allen Kontinenten tausendfach wiederholt: überall dort, wo Jäger und Bauern mit einer technisch überlegenen Zivilisation aufeinandertrafen. Wir begegnen ihr in anderer Form noch heute: im Gebiet der Amazonasindianer, in Indien zum Beispiel. Denn das Denken jener, die von der Natur nur nehmen, was sie brauchen, und der anderen, die raffen und horten, scheint unvereinbar.

November 1989

1

Die Welt war klein, flach und platt.

Der Winter hielt noch immer seine Hand über dem See. Das erste dicke Eis war zwar vor einem Mondwechsel aufgebrochen und hatte die trügerische Hoffnung geweckt nach offenem Wasser und Vogelschwärmen. Der Magen begann schon, von Krickenten und Wildgänsen zu träumen. Aber der Wind hatte gedreht, wehte aus der kalten Ecke, ein trockener, schlimmer Wind, der über den See blies und eine feste, schwarze Eisschicht bildete, die immer dicker wurde, dabei aber so durchsichtig blieb und in der Sonne blitzte und blinkte, daß man die Augen zukneifen mußte. Die Tage wurden länger, doch es wurde kälter, und mit dem Wind kamen die Laute der Tiere aus dem Wald, das Brüllen der Kühe und das Blöken der Schafe aus dem Dorf der Bauern.

Die Mutter kauerte bei der Feuerstelle und sang leise von dem Jahr, das nur aus Sommer bestand und das doch wiederkehren könne, sie verschob die Zweige und Scheiter, wärmte sich die Hände und blickte sich um, durch die Hütte, hinauf zu den Ästen, die das Dach bildeten, hinaus durch die halbgeöffnete Tür. Das grelle Licht blendete, und sie kniff die Augen zusammen, als sie auf dem Eis nach dem Vater Ausschau hielt.

Jetzt fing sie mit ihm zu reden an, die eine Hand lag unter Wange und Kinn, die andere bewegte sie langsam durch die Luft, beschrieb Wellen und Schlangenlinien in immer gleichbleibenden Bewegungen.

Der Junge, der noch keinen Namen hatte, sondern nur Mutters Junge war, ein Welpe, ein Junges, schob das Wandreisig beiseite und guckte hinaus. Weit draußen auf dem See erkannte er die Gestalt des Vaters, klein neben dem langen Fischspeer, von dem er gerade einen Aal ablöste, der so groß zu sein schien wie er selber. Er hielt ihn fest im Griff, legte ihn behutsam in den Korb und machte sich auf den Heimweg, leicht hinkend, der Kältedunst stand ihm vor Mund und Nase.

Die Mutter lachte zufrieden und stand auf. Sie ging hinaus, wo der Hund saß und die ferne Gestalt im Auge behielt, hechelnd in der Vorfreude auf das Fressen.

«Steh auf, kleiner Mann», sagte die Mutter, «wenn du deinen Vater sehen willst, wie er mit dem Aal heimkommt.»

Aber der Junge wollte nicht aufstehen. Er hatte es warm in dem Moosbett unter der alten Decke aus Fuchsfell. Er konnte warten, bis der Vater zu Hause war.

Die kleine Schwester wand sich schlaftrunken aus dem warmen Lager, setzte sich auf, bibberte ein wenig, rieb sich die Augen und die Nase. Sie stand auf, ging hinaus, guckte und kraulte den Hund im Nacken.

Der Vater setzte den Korb ab, und die Mutter öffnete ihn. Sie knieten nebeneinander und schauten in den Korb. Die Kleine kam heran und wollte auch sehen, und der Hund strich hinter dem Vater herum.

«So ein schöner Aal», sagte die Mutter zum Vater.

«Ein prächtiger Bursche», sagte der Vater und lächelte.

«Tüchtiger Aalfänger», sagte die Mutter und fuhr ihm mit den Fingern durch sein schwarzes Haar.

«Die Aale sind sehr treu», sagte der Vater.

«Wirklich treu», sagte die Mutter, «was sollten wir um diese Zeit und bei dieser Kälte ohne die Aale anfangen?»

«Die Wildgänse kehren bald zurück», sagte der Vater, «aber sie fliegen hinaus zum Fjord, wo das offene Wasser ist.»

«Ach, die Wildgänse», sagte die Mutter, «sie sind uns nicht treu.»

«Vielleicht sind sie in diesem Jahr creu», sagte der Vater, «vielleicht ist uns das Eis freundlich gesonnen und bricht rechtzeitig auf, vielleicht werde ich dir nächstes Mal Wildgänse bringen.»

«Ja», sagte die Mutter, «dann wären wir wieder schön wie der Sommer.»

Sie nahm ihr Brett und ihr Schneidemesser, die Fischköpfe warf sie dem Hund zu, das Fleisch und die Häute wurden zur Seite gelegt, gab es etwas Zäheres als Aalhaut, und sie schnitt das Fleisch in Stücke, richtete sie auf dem sauber geschabten Brett an. Sie holte getrocknete Kräuter, zerrieb sie zwischen den Händen und streute sie darüber, damit die Aale an Land kommen konnten, wie sie sagte.

Der Vater war auf die Anhöhe hinter der Hütte gegangen und hatte über das Land und in alle Himmelsrichtungen geschaut. Als er zurückkam, setzten sie sich ans Feuer und verzehrten den Aal, und während sie aßen, sangen sie Loblieder auf den guten, treuen Aal, der sie noch in keinem Jahr im Stich gelassen hatte.

Nach der Mahlzeit rülpsten sie kräftig, und der Vater schlüpfte in sein Moosbett, unter das Wolfsfell seines Urgroßvaters. Viele Geschichten hatte der Sohn über das Fell gehört, Geschichten vom Anfang der Welt, vom ersten Morgen und der Zeit danach: von Aalmutter und Aalvater, von den Sternen, die einst frei herumschwirrten wie Libellen, vom Eis, das die Erde bedeckt hatte, bis eine kleine Menschenmutter auf einem Berggipfel ein Feuer entzündet hatte, und von ihrem eigenen Clan, der von dem klugen Baummarder abstammte. Damals gab es genug Tiere auf der Erde.

Die Mutter stocherte im Feuer und redete mit sich selbst, bis der Vater schlief und schnarchte. Dann ging sie hinaus und nahm ihren Korb. Die Kleine folgte ihr, und auch der Hund trottete hinterdrein. Gemeinsam verschwanden sie Richtung Mittag im niedrigen Eichen- und Kieferngehölz des Waldrandes, um zu schauen, ob vielleicht irgendein eßbarer Pilz aus einem Baumstumpf oder einer abgerissenen Rinde gewachsen war.

Mutters Junge, wie er immer noch hieß, nahm den langen Fischspeer des Vaters, prüfend umfaßte er den glatten Schaft aus Eibe, und er fand den Speer nicht zu lang und nicht zu schwer. Obwohl er einen Kopf kleiner als der Vater war, reichten seine Arme hoch genug hinauf, um den Schaft so zu halten, daß er gezielt zustoßen konnte. Er holte sich den kleinen Spitzhammer aus Feuerstein, den sein Vater, der Vater seines Vaters und auch dessen Vater immer benutzt hatten und der ein so großes Loch ins Eis machte, wie es für Speer und Schaft nötig war. Das Loch wurde wie ein Mund, wie eine Führung, die beim Zielen half.

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