Der Junge beugte sich zur Türöffnung und flüsterte: «Vater, ich geh hinaus und versuche, einen Aal zu stechen.»
Der Vater drehte sich schwerfällig um. Das Schnarchen brach kurz ab, dann fiel er wieder in tiefen Schlaf. Seine dunklen Augen waren für einen winzigen Moment offen gewesen.
Den Aalstecher in der linken und den Hammer in der rechten Hand, lief der Junge hinunter zum Seeufer, wo das alte, rissige Boot umgekippt lag und darauf die geflochtene Reuse.
Obwohl kein Wind blies, raschelte es im Schilfwald, stets hatten die Schilfrohre etwas zu erzählen, bei Nacht und Tag, während die dichten, grünen Grasbüschel unter dem Eis schwiegen.
Zwischen dem Röhricht war das Eis weiß und spröde, übersät mit gefrorenen Schilfstengeln. Doch dahinter lag das See-Eis dunkel und klar. Hier stiegen sie im Sommer immer ins Boot. Weiter draußen gab es viele Risse, die nach allen Richtungen verliefen, sie bildeten sich mitten in der Nacht, unter lautem Krachen, das einen aus dem Schlaf riß. Sonst war das Eis spiegelglatt bis auf einige Luftblasen hier und dort, Stellen, vor denen er sich in acht nehmen mußte.
Er ging in die Richtung, wo der Vater morgens gefischt hatte. Wo ein Aal ist, sind viele Aale, und wo sie liegen und träumen, steigen Luftblasen auf und legen sich unters Eis. Wo die Luftblase klein, rund und lebendig war, da wollte er sein Loch hacken, da wollte er seinen Aal fangen.
Wo die Sonne stand, war der Himmel bleich. Ein Adler flog mit ausgebreiteten Schwingen am Ufer entlang, er würde sich vermutlich den Hasen holen, der sonst in eine von Vaters Schlingen gegangen wäre. Und Hasen waren rar.
Der Junge blieb stehen. Vor sich sah er eine Luftblase unter dem Eis. Er ging näher heran. Er wartete, und kurz darauf stieg ein kleines Bläschen auf und legte sich zu der großen unterm Eis, und dann kam noch eines. Hier schlief und träumte der Aal.
Er legte den Fischspeer beiseite, schätzte die Größe der Luftblase ab. Er ging in die Hocke und schlug mit dem Spitzhammer. Es dröhnte, das war nicht zu vermeiden, aber der Aal floh noch nicht, vielleicht dachte er, daß es ihn nichts anginge.
Ein Loch war entstanden, Wasser schwappte auf das Eis. Der Junge säuberte die kleine Öffnung von Eissplittern. Er stand auf und nahm den Speer. Er spürte Angst in der Brust und schaute sich um.
Der Adler schwebte über dem gefrorenen Gras des Uferstreifens und flog dann in niedriger Höhe hinüber zum Wald, wo er aufstieg. Er hatte nichts zwischen den Klauen, er hatte sein Ziel verfehlt. Ach ja, lieber Adler, sagte er zu sich, nun bist du wohl enttäuscht.
Er wurde auf einmal froh. Gut, daß es Fehlschläge gab, auch für Adler.
Dann stand er ganz still. Den langen Speer hatte er mit beiden Händen umfaßt, die Spitze zeigte auf das Loch. Er stieß zu. Seine ganze Kraft legte er hinein, und er fühlte, wie seine Seele ein Stück mit hinunterging in die Tiefe des Sees.
So blieb er, sein ganzes Gewicht nach vorne gelegt, still stehen. Er holte tief Luft, bewegte den Speer ein bißchen und meinte, den Widerstand des Aals zu spüren.
«Danke, kleiner Aal», sagte er, «danke, daß du so treu bist.» Es konnte nicht anders sein. Da steckte ein Aal an der Harpune. Er zog den Speer ein, noch war es zu früh, stolz zu sein.
Er sah den gelbgrünen Rücken unter dem Loch. Er hatte ihn in den Nacken getroffen, das Tier zappelte heftig, und er mußte sich bücken und mit der Hand zupacken, um es zu beruhigen, bevor er es durch das Loch ziehen konnte.
Ein Riesenaal. Hoffentlich war es nicht der Aalvater selbst. Das Eis dröhnte. Wollte es aufbrechen und ihn verschlingen?
Ein Aalriese. Wie würde sich seine Mutter freuen, sie war ja so hungrig, ständig saß sie da und schälte die Rinde von den Scheitern, um vielleicht ein flaches, kleines Lebewesen zu finden, das sie zerbeißen konnte, um den Hunger ein wenig zu stillen.
Der Aal schlängelte sich am Speer und auf dem Eis, und er wußte plötzlich nicht mehr, was er tun sollte. Er hatte Vaters Messer und den Korb vergessen. Er mußte den Aal am Speer oder mit den Händen nach Hause tragen. Dumm.
Während er noch überlegte, befreite sich der Aal. Der Junge sah, wie der Aal über das Eis schlängelte, rutschend und wieder Halt findend, in rasender Geschwindigkeit, der Junge stürzte hinterher, warf sich auf das Tier und packte es mit beiden Händen. In dem Aal steckte eine unglaubliche Kraft und eine unglaubliche Geschmeidigkeit.
«Du großer Riesenaal», sagte er, «sei doch treu. Komm heim mit mir zu meiner Mutter, die solchen Hunger hat.»
Und der Aal zögerte wirklich einen Augenblick und noch einen. Vielleicht waren es die Luft und die Kälte, vielleicht war es das Flehen des Jungen.
Der Aal hatte ihn verstanden. Das Tier zuckte nur noch ein paarmal, er konnte es in Ruhe betrachten. Er hielt es in einer Hand, direkt hinter dem Nacken.
Mit Speer und Hammer in der linken und dem Aal in der rechten Hand machte er sich auf den Heimweg. Als er in Sichtweite der Hütte war, sah er, wie der Vater aus der Tür trat, um die Ecke bog und ihn schließlich erblickte. Der Vater stand unten am Ufer neben dem Boot, als der Junge an Land kam. Der Vater nahm ihm den Aal ab und nickte.
«Aale sind sehr treu», sagte er, und gemeinsam gingen sie hinauf zu ihrer Hütte.
Und als sie oben standen und der Aal im Korb lag, lachten sie, zuerst ein bißchen, dann richtig, zuerst der Vater, dann der Sohn, und sie umarmten sich und lachten und rieben sich gegenseitig die Arme.
«Jetzt wird sich die Mutter freuen», sagte der Vater.
Das würde sie wohl.
Der Junge lehnte den langen Aalstecher gegen die Dachtraufe der Hütte.
Sie setzten sich ans Feuer, der Vater stocherte in der Glut und legte Brennholz auf, bis die kleinen Flammen emporzüngelten und dünner Rauch am Boden entlang zur Tür hinaus kroch. Sie schliefen nicht, aber sie träumten ein bißchen, bis sie die Stimmen von Mutter und Tochter aus der Ferne hörten. Jetzt kamen sie aus dem Wald, und sie redeten die ganze Zeit, die Tochter eifrig, die Mutter erklärend. Jetzt waren sie bei der großen Eiche, die beiden am Feuer hörten es, und jetzt stiegen sie zur Hütte hinunter, ständig redend, die Mutter ging voran, dahinter die Tochter, als letzter der Hund.
Jetzt waren sie schon ganz nahe, und der Vater erhob sich und ging hinaus, um sie zu begrüßen. Der Junge, der noch keinen Namen hatte und nur Mutters Junge genannt wurde, blieb sitzen und lächelte bei dem Gedanken, was die Mutter und die Schwester wohl sagen würden.
Die Stimme der Mutter war so laut und schrill. Das verhieß nichts Gutes. Sie hatten wohl nichts gefunden. War wirklich kein einziger Pilz aus dem morschen Baumstumpf oder einem gespaltenen Stamm gewachsen? Hatten nirgends ein paar gefrorene Beeren unter dem Schnee überwintert, nur Haut mit ein bißchen Saft, der nach süßem Herbst schmeckte? Oder eine Handvoll guter Grassamen, die man zwischen zwei Steinen zermahlen konnte und damit den Mund füllen? Oder einige lange Streifen rötlicher Weidenrinde, auf denen man kauen konnte? Hatten sie nichts davon mit heimgebracht?
Die Mutter und die Schwester unterbrachen ihr Gespräch, als sie den Vater vor der Tür stehen sahen. Der Vater sah so verschmitzt aus, und der Junge hörte, wie die Mutter auf einmal mit der Schwester wisperte und tuschelte. Sie schlichen auf leisen Sohlen näher, der Hund umkreiste sie schnüffelnd, und der Junge stellte sich vor, wie der Vater den Korb öffnete, in dem sich der Aal wand, und alle standen da und freuten sich über den herrlichen Anblick des dicken, langen Aals.
Die Mutter schaute den Vater an, und der deutete zur Feuerstelle, wo der Junge sich abwandte, sich nicht regte, bis er spürte, daß die Mutter ihn lächelnd anblickte. Da lachte er, und sie lachte, und sie lachten alle zusammen. Der Vater hielt den Aal in die Höhe, und der Junge trat heraus, und in diesem Augenblick sah er, wie der Adler nach unten stieß.
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