«Jetzt nimmt er sich den Hasen», rief er, und der Vater schaute in dieselbe Richtung, und sie sahen den Adler mit mächtigen Flügelschlägen aufsteigen, einen Hasen in den Klauen, vielleicht war es ihrer.
«So ist es, wenn man einen Adler zum Nachbarn hat», sagte die Mutter.
Hasen schmecken besser als Aale, sie spürte es im Magen und auf der Zunge, schon lange hatten sie kein Fleisch mehr gegessen. Die Fallen waren leer, wenn sie nachsahen, vielleicht, weil sich die Hasen in den Äkkern der Bauern aufhielten oder weil irgendeiner der Siedler glaubte, man könne sich ruhig einen Hasen aus ihren Fallen mitnehmen. Mitten in ihrer Freude über den Aal wurden sie traurig.
Die Mutter zeigte, was sie gesammelt hatte. An allem klebte grünes Moos, aber sie hatte nasse, gelbe Schwämme und bläulich-weiße Pilze gefunden. In einer Ecke des Korbes lagen einige Handvoll gefleckter Moosbeeren aus den Waldniederungen, in denen auch in den trockensten Sommern das Wasser stand. Die Mutter teilte sie sofort aus, und sie schmeckten den kalten, bitteren Saft.
Ach, wie geschickt die Mutter doch war, jedesmal fand sie etwas. Sogar im tiefsten Winter scharrte sie an bestimmten Stellen, die sie genau kannte, den Schnee weg und fand irgendwelche Beeren. Sie war so geschickt, und die Schwester stand hinter ihr und sagte nichts, denn was hatte sie gefunden?
Sie hatte unter der Kiefernrinde sieben flache Käfer gefunden.
«Aber die habe ich gleich gegessen», sagte die Mutter und lachte breit. Doch dann wurde sie aufgeregt.
Sie hatten Hirschspuren entdeckt. Es mußte ein großer Hirsch sein, denn die Spuren waren tief und breit.
Der Vater hörte zu und wandte sich ab.
«Hirsche sind zu groß», sagte er, als die Mutter drängte. «Viele Tagemärsche gehen sie, quer über die Felder der Bauern, der Hirsch kann laufen, wo er will, wir nicht mehr.»
Unsicher schaute er den Jungen an, und der Junge sah die Trauer in seinem Blick.
«Kleine Hasen», sagte der Vater, «kleine Hasen in Schlingen und Fallen, und Vögel, aber Hirsche ...»
Er wandte sich ab.
Sie waren auch auf Menschenspuren gestoßen, waren ihnen unauffällig gefolgt bis zu einem Acker, wo sie einen Bauern gesehen hatten, eingehüllt in sein Wams und mit der Kapuze auf dem Kopf war er auf dem Weg zum Dorf, wo der Rauch aus allen Dächern aufstieg. Er hatte sie nicht gehört. Es war so einfach, einen Bauern zu überlisten.
«Sie haben Ohren wie wir», sagte die Schwester, «aber sie hören nichts.»
«Sie verlieren von dem Gebrüll ihrer Tiere das Gehör», sagte der Vater, «sie riechen nicht mehr den Duft der Blumen und erkennen nicht den Geruch des Wilds, weil sie in Rauch- und Mistgestank leben. Keiner von ihnen versteht es, mit einem Vogel zu sprechen, keiner kann einen Fisch anrufen. Für Brot und Käse mühen sie sich ab und lassen einander schuften und wissen nicht, was die Welt ist.»
Sie schauten den Vater an und wollten mehr hören.
«Sie haben uns aus unseren Jagdgründen vertrieben. Sie brennen den Wald ab um des Brotes willen und vermehren sich und zeugen und schaffen riesige Sippen. Und wo bleiben wir? Wo haben wir Verwandte, wo sind die anderen von unserem Volk? Zur Zeit meiner Eltern waren wir viele, zur Zeit meiner Großeltern gab es noch dichte Wälder, und die Hirsche tranken im Sommer in den Waldniederungen. Früher, als unser Clan entstand, waren wir hier die Menschen. Aber die Bauern lassen uns nicht leben. Welche Absprachen wir auch treffen, sie brechen alle. Sie brennen die Wälder nieder, und für die Nester der Vögel gibt es bald keinen Zweig mehr. Legen wir ihnen einen fetten Aal oder eine der ersten Schnepfen als Geschenk an den Waldrand, geben sie uns dafür nur Schund und gebrauchtes Zeug, zum Schein und aus Angst, wir könnten einen ihrer Männer beim Pflügen oder Säen auf dem Acker mit Pfeilen beschießen, oder wir könnten in einer ihrer Töchter den Rausch der Liebe wecken, sie mit zu unseren Wohnplätzen nehmen und sie verstecken, bis sie nicht mehr zurückkehren will. Diese Schmach fürchten sie am meisten.»
«Unser Unglück ist groß», sagte die Mutter, und Tränen standen in ihren Augen, «aber nun wollen wir uns über den feinen Aal und die guten Pilze freuen, die so treu zu uns halten.»
Der Vater brach auf, um nach den Schlingen zu sehen. Die Mutter setzte sich ans Feuer, um ein bißchen zu singen. Der Junge und seine Schwester gingen hinunter zu der kleinen Quelle, die am Fuße des Hügels plätscherte. Am Rande war dünnes, sprödes Eis, das sie sich auf die Zunge legten und schmelzen ließen. Unter dem gefrorenen Grassaum schwammen manchmal winzige Fische. Das Wasser strömte schnell den kurzen Weg hin zum See, an der Mündung verschwand das offene, dunkle Wasser hinter Weidenbüschen, wo im Sommer die Singvögel in den Ästen saßen. Sie schöpften Wasser, wo der Grund sandig und hell war, schlürften es und ließen es durch die Finger laufen. Das machten sie, bis es lauwarm war. Sie machten ihre Gesichter naß, ihre Augenbrauen und ihre Ohren, sie genossen es, so naß und erfrischt zu sein. Sie schnieften das Wasser in die Nasenlöcher und prusteten es wieder aus, sie gurgelten damit im Mund und spuckten es in weitem Bogen aus. Man konnte Wasser für so vieles benützen. War Wasser nicht etwas Einzigartiges?
Der Hund gesellte sich zu ihnen, er stellte sich mit den Vorderbeinen ins Wasser und schlabberte und schlabberte.
«Mutter sagt, daß bald Neumond ist», sagte die Schwester, «dann wirst du uns wohl verlassen?»
Der Junge schaute sie an und schwieg.
«Du bist noch so klein, sagt Mutter, aber jetzt ist es Zeit für dich, sagt sie, sie spürt, daß du einen Namen brauchst, und deshalb mußt du für einige Zeit weggehen.»
Er fuhr mit den Fingern durchs Wasser. Er dachte nach. Er begann, mit beiden Händen aufs Wasser zu klatschen, da entstanden Laute, hohle Plätscherlaute, und die Schwester machte es ihm nach. Wasser war wirklich etwas Einzigartiges.
Der Hund schaute ihnen zu, und das Wasser troff ihm aus den Mundwinkeln. Sie klatschten und sangen, es wurde schon dunkel, als sie heimgingen.
Die Dämmerung kam jetzt langsamer, die Tagundnachtgleiche war vorüber. Noch lange nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, leuchtete der graue Himmel rosa und rot. Der Wind schlief ein, und in der Stille vernahm man nur das Dröhnen des aufreißenden Eises, das leise Rieseln der Quelle und die Schreie der Eulen in der hohen Eiche.
Die Mutter schürte das Feuer. Sie hatte die Haut des Aals am Nacken aufgeschnitten, hatte sie vorsichtig abgezogen, jetzt wickelte sie das Fleisch des Fisches in Kräuter. Dann streifte sie die Haut vorsichtig wieder über den Aal. Sie legte ihn in die heiße Asche, und wenn der Vater heimkam, würden sie ihn essen, tropfend und warm. Die Mutter redete leise mit sich selbst und sang, und sie horchte, ob sie schon Schritte vom Seeufer her hörte, denn von dort mußte er kommen.
«Vater wird sicher ein niedliches Hasentier mit heimbringen», sagte sie, oder: «Bestimmt bringt er uns einen Hoppelmann, mit Fett am Rücken und Fett an den Läufen. Mmm.»
Sie hatte solchen Hunger, ihr Magen war so leer.
«Schaut mich an, wie wintermager ich bin», sagte sie, «und wie ihr ausseht, nur Haut und Knochen. Wenn wir doch heute und morgen einen Hasen essen könnten.»
Mit der Dämmerung kam jedesmal eine kleine Maus. Mit gespitzten Ohren und blitzenden kleinen Augen saß sie da und guckte den Jungen an, bis er ihr die Hand hinstreckte. Dann sprang sie in seine Hand, schnüffelte prüfend und lief rasch seinen Arm hinauf bis zur Schulter, wo sie sich hinsetzte und ihm in die Augen schaute. Sie machte Männchen, wackelte mit den Vorderbeinen, und ihre Barthaare zitterten. Jeden Tag erzählte sie über das, was sie erlebt hatte, erzählte von anderen Feldmäusen, die in die Dörfer gelaufen waren und in großen, mit Getreide gefüllten Tontöpfen lebten und die so schreckliche Angst vor dem Sterben hatten.
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