Peter Seeberg
Das Mädchen mit der Muschelkette
Aus dem Dänischen von Lothar Schneider
Saga
Das Mädchen mit der Muschelkette
Aus dem Dänischen von Lothar Schneider
Originaltitel: Frosten hjælper © 1994 Peter Seeberg
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711512609
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, spielt vor 1700 Jahren, zu einer Zeit, die man die römische Eisenzeit nennt. Damals war Jütland schon längst von Bauern besiedelt. Sie wohnten in Dörfern und rodeten riesige Waldflächen, um neues Ackerland zu erschließen. Doch in den Wäldern und den entlegenen Gegenden des Landes lebten noch andere Menschen: Jäger und Fischer, die sich von den Tieren des Waldes, von Beeren und Pilzen ernährten. Sie verhungerten allmählich, denn mit der Rodung der Wälder wurde der Wildbestand immer kleiner.
In drei Bänden erzählt Peter Seeberg seine Geschichte vom Jungen aus dem Clan der Baummarder. Sie beginnt Ende Winter, als die Menschen unter dem Hunger leiden. Mit dem Steigen der Sonne wird das Leben leichter. Für den »Jungen ohne Namen« kommt jetzt die Zeit, da er aufbrechen muß zum See der Kraniche, weit oben im Nordosten. Drei rote Kranichfedern soll er von dort zurückbringen und sich so seinen Namen verdienen. Seine Wanderung führt ihn durch Wälder und Moore, an den Dörfern vorbei, immer auf der Hut vor den Bauern, die das Volk der Jäger mit Haß verfolgen. Doch er sieht auch ein Bauernmädchen, das ihm gefällt, und an der Küste begegnet er seinem Onkel, der als reicher Kaufmann im fernen Lutetia Parisiorum lebt. Er fordert den Jungen auf, mit ihm zu kommen, aber der Junge will heim zur Hütte am See. Als er nach vielen Mondwechseln zurückkehrt, ist die Hütte abgebrannt, Mutter, Vater und Schwester sind tot. Der Junge denkt, daß es wohl die Bauern waren, die sie umgebracht haben.
Allein übersteht er den strengen Winter. Im Frühjahr bricht er auf zur Küste, dorthin, wo im Vorjahr das »Schiff der Fremden« angelegt hat und wo er seinem Onkel begegnet ist, dem einzigen, der ihm jetzt noch einen Namen geben kann. Lange muß er an der Küste warten. Als das Schiff endlich anlegt, ist sein Onkel nicht an Bord. Der Steuermann bietet ihm an, ihn mitzunehmen nach Lutetia. Es ist eine gefährliche Reise, aber der Junge überlebt. Der Onkel gibt ihm den Namen Arga-ir, »das Auge, in dem die Welt tanzt«. Er bittet ihn zu bleiben. Doch Arga-ir fühlt sich eingesperrt in dem Haus aus Stein. Er sehnt sich nach dem Wald am See, wo er aufgewachsen ist, und er möchte das Mädchen wiedersehen, in das er sich verliebt hat. Noch einmal bricht er auf ... die Geschichte vom Mädchen mit der Muschelkette beginnt.
Es war ein stilles Haus. Arga-ir lauschte nach allen Richtungen, nach oben, nach unten und nach jeder Seite, hörte aber keinen Laut, wie sehr er sich auch anstrengte. Zur genaueren Prüfung hielt er sogar ein Ohr auf den Boden und an die Wände. Das Licht der Lampe, die sie ihm hereingestellt hatten, brannte ganz ruhig, mit unbeweglicher Flamme, und er sah, wie sein Schatten bald die eine Wand hinaufkroch, dann über den Boden und die andere Wand hinauf. Es war schlimmer als der Tod. Er fühlte sich eingesperrt wie ein Fisch in der Reuse, wie ein Tier in der Falle. In dem Raum, wo man ihm ein Lager bereitet hatte, roch es feucht und ein wenig muffig.
»Da kannst du schlafen«, hatte die Frau des Onkels zu ihm gesagt und ihm den Nacken gestreichelt, so daß es ihm den Rücken hinabrieselte. Danach hatte sie ihm die Hand gedrückt, ohne daß er es wollte, und ein bißchen Veilchenduft haftete noch daran. Der Duft breitete sich rasch in dem klammen Zimmer aus.
Sie hatten ihn vieles gefragt, doch er hatte so wenig wie möglich geantwortet. Er hatte an ihrer Mahlzeit teilgenommen, aber fast nichts gegessen, obwohl ihm die Frau des Onkels über den Arm gestrichen und ihn mit Worten genötigt hatte, die gut gemeint waren, das spürte er, und der Onkel und der Steuermann hatten ihm alles übersetzt.
»Du mußt den Winter über hierbleiben, im Frühjahr kannst du mit dem Schiff zurück«, hatte der Onkel gesagt.
Der Onkel hatte ihm zwar einen Namen gegeben, aber er brauchte nicht zu glauben, daß er den Winter über bleiben würde. Er wollte heim. Er mußte heim. Er wußte, welche Richtung er einschlagen mußte, zumindest in der Nacht.
Von draußen drang ein bißchen Licht durch einen Fensterladen herein. Er tastete herum und fand den Riegel, doch der Laden sprang nicht auf, es gab noch eine Sperre. Als er auch diese gefunden und gelöst hatte, öffnete er den Laden vorsichtig. Der Wind strich über sein Gesicht, der Große Bär ging weiter unten am Himmel als sonst, und die Lichter der Häuser in dem, was der Steuermann Stadt nannte, flackerten.
Jetzt hörte er Hundegebell in Höfen und Straßen. Alles schien seltsam deutlich. Menschen redeten miteinander, während sie die breiten Straßen der Stadt entlang gingen. Sie klapperten mit ihrem Schuhzeug, und ihre Stimmen waren laut, als wüßten sie um keine Gefahr.
Unten vom Hof, der zum Haus des Onkels gehörte, vernahm er ein Flüstern. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und sah einen Mann, der aus der Küche gekommen war, mit einer Frau zusammenstehen und abwechselnd von einem Brot, wie sie es nannten, abbeißen. Sie klopften auf das Brot, und sie klopften sich selbst leicht auf die Stirn und an die Schläfen, und sie sagten Worte, die mehr wie Laute klangen. Sie lachten und kicherten auch ein wenig, aber dann sagte einer zum andern »Psst«. Sie achteten offensichtlich darauf, den Onkel und seine Frau nicht zu stören.
Plötzlich fiel das Licht vom offenen Fenster auf sie. Die Frau wandte den Kopf. Er sah ihren Schrecken und zog den Laden etwas zu, er wollte nicht erkannt werden. Für eine Weile verstummten sie da unten, dann begannen sie erneut zu flüstern, vermutlich über den Fensterladen, das Licht und über ihn. Sie hatten die Hälfte des Brotes aufgegessen. Der Mann steckte einen Finger in den Mund, um etwas zu entfernen. Dann begann er auf eine andere Weise mit der Frau zu reden, so daß sie ihm nicht widerstehen konnte. Sie verschwanden durch eine Tür, die sie sorgfältig hinter sich schlossen, und kurz darauf hörte er munteres Lachen, jedesmal wenn der Mann etwas gesagt hatte.
Ob wohl der Onkel und seine Frau schon schliefen? Oder sprachen sie über ihn? Darüber dachte er nach.
Er wollte am nächsten Tag aufbrechen, so früh wie möglich. Er setzte sich nicht, er legte sich nicht. Er wollte in diesem Haus nicht schlafen. Er wollte am Fenster stehen und den Großen Bären über den Himmel gehen sehen, bis es hell wurde. Dann wollte er aufbrechen.
Er sprach seinen Namen leise vor sich hin. Arga-ir. Arga-ir. Vielleicht hatte der Onkel ihn getäuscht, hatte ihm einen Namen gegeben, der Unglück brachte, und nur eine Deutung gesagt, um ihn zu blenden. Vielleicht war es gar nicht der Name des Großvaters. Sein eigener Vater hatte den Namen nie genannt. Er würde es nie wissen, er konnte niemanden fragen, nicht einmal sich selbst. Arga-ir, vielleicht war das ein anderer Name für den Pilz, den seine Mutter Eulenfurz genannt hatte, ein gefährliches Nichts, dessen Staub blind machte, wenn man ihn in die Augen bekam.
Was der Name auch bedeuten mochte, er hieß jetzt Arga-ir. Solange er lebte, würde das sein Name bleiben.
Er blieb am Fenster stehen und betrachtete den Großen Bären, der langsam wie eine Schnecke dahinkroch. Der Himmel war hell, durchsichtig vom Licht. Da kam eine Eule über die Dächer geflogen und setzte sich auf den Giebel gegenüber, spähte hinunter in den Hof, und er sah das Funkeln von Mäuseaugen. Die Maus machte sich gerade über die hinuntergefallenen Brotkrumen her. Die Eule auf dem Dach wurde unruhig, dann glitt sie lautlos auf die fressende Maus zu, die ab und zu ängstlich piepste. Bevor sie sich zur Flucht entschließen konnte, war die Eule über ihr und packte sie, fast ohne zu landen. Sie flog aus dem Hof und verschwand mit lautlosem Flügelschlag über den Dächern.
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