1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Ich kenne Gabi seit einigen Jahren. Ich weiß, dass sie immer dann in dieses Verhaltensmuster fällt, wenn sie sich von ihrem Gegenüber nicht vorbehaltlos unterstützt fühlt. Sie hat ganz bestimmte Vorstellungen, wie diese Unterstützung aussehen sollte. Kritische Rückfragen gehören nicht dazu. Auch keine Verbesserungsvorschläge. Die verunsichern sie nämlich zutiefst. Sie fühlt sich dann abgelehnt und angegriffen. Zuerst geht sie in den Verteidigungsmodus und dann zum Gegenangriff über. Dieser sieht meist so aus, dass sie mit allen Mitteln versucht, die Person, die ihr das Leben so schwer macht, loszuwerden.
Ich führe mit Gabi viele Gespräche. Von Mal zu Mal ist sie aufgewühlter. Stundenlang höre ich ihr zu, versuche zu verstehen und ihren Blick in neue Richtungen zu lenken. Versuche, ihr zu helfen, aus der Opferhaltung herauszukommen. Versuche, ihr zu helfen, ihre Feindbilder gegenüber Menschen abzulegen, die gar nichts gegen sie haben, sondern nur offen ihre Meinung sagen. Es gelingt mir nicht. Für Gabi gibt es nur ein Entweder-Oder: „Entweder geht Silvan, oder ich gehe.“
Nach einigen Monaten geht Gabi und sucht sich eine neue Gemeinde. Ich bin erleichtert und traurig zugleich. Erleichtert, weil es so nicht weitergehen konnte. Traurig deshalb, weil Gabi viele wertvolle Fähigkeiten hat und in einer Gemeinde ein großer Segen sein könnte – wenn nur diese inneren Feindbilder nicht wären …
Die Hintergründe von Gabis Empfinden und Verhalten sind vielschichtig. Was mir in meinen Gesprächen mit ihr immer wieder auffällt, ist ihre Weigerung, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Geht es um reine Leitungsaufgaben, klappt es vorzüglich. Sie leitete aufwendige Programme und mehrere Teams. Sobald es aber um ihre Person geht, weist sie jede Verantwortung von sich. Wenn es einen Konflikt, eine Kritik, eine Meinungsverschiedenheit gibt, dann ist meist die andere Person das Problem, nicht sie selbst. Wenn sie sich angegriffen fühlt, dann ist ihr Gegenüber schuld daran, dass es ihr schlecht geht. Dass sie selbst so fühlt, so interpretiert, eine so starke innere Infragestellung aufbaut, das kann oder will sie sich nicht eingestehen.
Ich kann Gabi ein Stück weit verstehen. Wir alle tragen diese Tendenz zu einem gewissen Maß in uns. Auch ich. Wenn es mir nicht gut geht, dann richte ich bei der Suche nach den Ursachen meinen Blick lieber nach außen, auf die Umstände und andere Menschen, statt mich selbst zu hinterfragen. Wenn etwas schiefläuft, schiebe ich die Verantwortung lieber auf andere, als sie (oder einen Teil davon) auf mich zu nehmen. Es ist eine ur-menschliche Tendenz: Wir scheuen selbstverantwortliches Leben – vor allem in schwierigen Zeiten und in herausfordernden Beziehungen.
Selbstverantwortung ist die erste Aufgabe in unserer Selbstführung. Ich habe sie im letzten Kapitel so definiert: Ich bejahe die Verantwortung für mein Ergehen und Verhalten in allen wesentlichen Bereichen meines Lebens.
Nicht wahrgenommene Selbstverantwortung ist die wichtigste Ursache für fehlende Selbstführung. Wer die primäre Zuständigkeit und Verantwortung für sein eigenes Fühlen, Ergehen und Verhalten von sich weist, sucht die Gründe für seinen Schmerz, seinen Stress, seine Probleme immer in den Umständen und bei anderen Menschen. Und weigert sich in der Folge, sich um jene Person zu kümmern, auf welche er den größten Einfluss hat: sich selbst.
Ich kenne keine bessere Anleitung zu einem selbstverantwortlichen Leben als die Bibel. Sie lehrt uns in faszinierender Weise, uns vorbehaltlos Gott anzuvertrauen und zugleich Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Beides ist uns deshalb möglich, weil Gott uns überreich beschenkt und uns mit der Fähigkeit zu selbstverantwortlichem Handeln ausgestattet hat. In den folgenden Zeilen lade ich Sie ein, mit mir zusammen zu entdecken, wie deutlich dieses Anliegen, zusammen mit der Selbstführung insgesamt, in der Bibel verankert ist. Gottes Wort führt uns aber auch vor Augen, wie schnell und leicht wir vor dieser Verantwortung fliehen. Ich versuche zu zeigen, weshalb das so ist. Anschließend möchte ich darstellen, welche Auswirkungen die Christusnachfolge auf unsere Selbstführung hat. Das Neue Testament gibt uns wertvolle Anhaltspunkte, wie wir uns in Übereinstimmung mit Gottes Anliegen und Zielen selbst gut führen können.
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KAPITEL 2
GOTTES EINLADUNG UND BEFÄHIGUNG ZU VERANTWORTLICHEM HANDELN
Vielleicht kennen Sie einen dieser Werbespots zu Schweizer Produkten, die in den vergangenen Jahren auch in Deutschland fast schon Kultstatus erreicht haben, zum Beispiel für Ricola, ein Schweizer Kräuterbonbon. In den Spots verkünden Menschen aus verschiedenen Erdteilen und Nationalitäten voller Stolz, dieses Bonbon sei eine Errungenschaft ihres Landes. Doch dann taucht aus dem Hintergrund ein kleiner, vorwitziger Schweizer auf und klaut den verdutzten Schummlern die Bonbons aus der Hand. Er schaut in die Kamera und fragt in breitem Schweizer Hochdeutsch: „Wer hat’s erfunden?“ Natürlich wir, die Schweizer!
Bei einer anderen Werbekampagne geht es um das Geheimrezept des Appenzeller Käses. Der deutsche Schauspieler Uwe Ochsenknecht sitzt zwischen zwei traditionell gekleideten Appenzeller Bauern und will ihnen um jeden Preis das Originalrezept entlocken. Dabei verspricht er ihnen das Blaue vom Himmel. Doch die beiden Appenzeller schauen mit unbewegter Miene in die Kamera und verraten kein Wort. Niemals würden sie ihren besten Käse einem Ausländer ausliefern! Ochsenknecht verzweifelt beinahe angesichts der Tatsache, dass er nicht hinter dieses Geheimnis kommt …
Bei Bonbons, Käse und anderen Gütern können wir mit Recht fragen, welches Land und welche Menschen diese Spezialität erfunden und entwickelt haben. Bei der Selbstführung sieht es anders aus. Keine Nation und kein Mensch kann hier Urheberrechte oder Markenschutz geltend machen, denn da ist uns Gott zuvorgekommen. Die Bibel beschreibt seine Einladung dazu an einer Stelle und zu einer Zeit, als noch kein Mensch darüber nachdachte.
Geschaffen für ein verantwortlich gestaltetes Leben
Wenn Sie die ersten Seiten der Bibel aufschlagen und darin zu lesen beginnen, begegnen Sie dort dem Erfinder all dessen, was Sie in sich und um sich herum an Gutem wahrnehmen können. Sie erfahren, wie Gott den Kosmos ordnete und die Welt erschuf. Wie durch ihn Pflanzen, Tiere und Menschen ihr Leben bekamen und die Erde bevölkerten. Dort, in den ersten Sätzen der Bibel über den Menschen, begegnen wir auch dem Thema Selbstführung. Es werden dafür andere Worte verwendet – aber das Anliegen ist deutlich erkennbar. Lassen Sie mich die wichtigsten Hinweise zusammenfassen.
Meine drei Brüder und ich sehen uns ähnlich. Alle haben wir eine Glatze und ein oval geformtes Gesicht. Wenn Sie ein Familienbild von uns sehen würden, auf dem wir zusammen mit unseren Eltern abgebildet sind, dann würden Sie auf Anhieb erkennen, woher das kommt. Wir sind Abbilder unserer Eltern. Man erkennt bei einigen von uns Züge der Mutter. Bei allen aber drückt das Bild des Vaters durch, besonders was das oberste Ende unseres Körpers betrifft – die kunstvoll freigelegte Kopfhaut.
Bei fast allen Menschen kann man äußere Merkmale sowie innere Wesenszüge ihrer Eltern erkennen – vermutlich auch bei Ihnen. Was für Familien zutrifft, gilt nach den Worten der Bibel auch für die Menschheit als Gesamtes: Man findet an uns Spuren unseres Schöpfers. Jeder Mensch verfügt über Wesenszüge und Fähigkeiten, die auch Gott hat. „Lasset uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich“, beschloss unser dreieiniger Schöpfer, als er sich ans Werk machte und uns Leben einhauchte (1. Mose 1,26a). Wir könnten Dutzende von Merkmalen aufzählen, an denen dies sichtbar wird. Einige dieser Eigenschaften lassen erkennen, dass wir fähig sind, uns selbst zu führen. Wir sind nicht nur fähig dazu, es ist sogar unsere Aufgabe, wie die folgenden Punkte zeigen.
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