Das Spektrum an Situationen, in denen es darum geht, sich selbst zu steuern, ist beinahe endlos. In praktisch jeder Alltagssituation kommt diese Aufgabe zum Tragen. Mich selbst führen bedeutet, dass ich im Vertrauen auf Gott und mit innerer Zuversicht aktiv und mutig alle Möglichkeiten, Rechte und Chancen ausnütze, die sich mir in einer bestimmten Situation bieten. Mehr dazu erfahren Sie in den Kapiteln 15–23.
Wir haben eine erste wichtige Etappe erreicht. Ich habe definiert und zu erklären versucht, wie ich Selbstführung verstehe – das Rohmaterial – und was sie ausmacht und welche Aufgaben damit verbunden sind – die Werkzeuge.
Lassen Sie uns nun zusammenfassen und festhalten, weshalb wir uns mit diesem Thema beschäftigen und worauf wir aus sind, wenn wir uns selbst führen.
Es geht um die verantwortungsvolle Gestaltung unseres Lebens, sodass Gott dabei geehrt wird. Er überschüttet uns mit Würde, Gedeihen, mit Fähigkeiten und Gaben – kurz: mit reichem Segen! Wir sollen keine Endverbraucher dieses Segens sein, sondern ein Kanal, der ihn weiterfließen lässt – hinein in unsere Beziehungen und Aufgaben. Uns selbst gut zu führen, bedeutet, sich diesem Ziel zu weihen und zur Verfügung zu stellen, indem wir unseren bescheidenen und zugleich wichtigen Teil dazu beitragen, dass von unsren Worten und Taten Gutes, Heilsames, Ermutigendes und Hilfreiches ausgeht.
In seinem zweiten Brief bringt der Apostel Petrus diese Ausrichtung besonders treffend auf den Punkt. Er beschreibt die enge Verbindung zwischen dem Segen Gottes, den wir empfangen, und den Auswirkungen darauf, wie wir leben. Gleichzeitig macht er deutlich, welche aktive Rolle (die der Selbstführung!) uns dabei zukommt:
Ja, so ist es: Gott in seiner Macht hat uns alles geschenkt, was wir zu einem Leben in wahrer Frömmigkeit brauchen. Er hat es dadurch getan, dass er uns Jesus Christus erkennen ließ, ihn, der uns in seiner Herrlichkeit und Kraft berufen hat …
Setzt deshalb alles daran, dass aus eurem Glauben sittliche Bewährung erwächst, aus der sittlichen Bewährung Erkenntnis, aus der Erkenntnis Selbstbeherrschung, aus der Selbstbeherrschung Standhaftigkeit, aus der Standhaftigkeit echte Frömmigkeit, aus der Frömmigkeit Liebe zu den Glaubensgeschwistern, aus der Liebe zu den Glaubensgeschwistern Liebe zu allen Menschen.
Wenn ihr dies alles habt und ständig darin zunehmt, wird sich das auswirken und Frucht bringen in einer vertieften Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus. Wer dagegen all das nicht hat, ist kurzsichtig und geistlich blind. Ein solcher Mensch hat völlig vergessen, was es bedeutet, dass er von seinen früheren Sünden gereinigt worden ist. Deshalb, meine Brüder und Schwestern, setzt alles daran, so zu leben, dass eure Berufung und Erwählung gefestigt wird. Dann werdet ihr niemals zu Fall kommen, und Gott bereitet euch einen herrlichen Einzug in das ewige Reich unseres Herrn und Retters Jesus Christus.
1. Petrus 2,3.4a.5-11; GNB
Von Gott beschenkte und ermächtigte Menschen stellen sich den Verantwortungen und Aufgaben, die Gott ihnen zuweist. Genau darum geht es beim Anliegen, uns selbst zu führen. Es geht dabei um kein Optimierungsprogramm, das unser Leben ein bisschen besser, bequemer oder einfacher machen soll. Sich selbst führen ist kein Schlüssel zu persönlichem Erfolg. Es geht darum, den Willen Gottes so gut wie möglich zu erkennen und zu tun. Die Möglichkeiten auszuschöpfen, die er uns im Alltag gibt. Die Verantwortungen wahrzunehmen, die er uns zuweist. Den Platz einzunehmen, an dem wir ihm am besten dienen und ihn ehren können. Und schließlich in alldem zu wachsen, zu reifen und ein Segen zu sein für unsere Mitmenschen. Ein solches Leben wird in vielem nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Erfolg und Glück entsprechen. Weil uns darin aber Gott vor Augen und im Herzen ist, wird es ein gutes, erfülltes und zufriedenes Leben sein. Es macht uns reicher – nicht finanziell gesehen, sondern an innerer Klarheit, Gelassenheit und Hoffnung.
Obwohl es in den kommenden Kapiteln noch öfter deutlich wird, will ich an dieser Stelle bewusst betonen, dass eine solche Lebensführung nicht unser Bedürfnis nach mehr Kontrolle befriedigt. Sie wird nicht dafür sorgen, dass wir die Dinge besser im Griff haben. Sie ist auch kein angestrengter und anstrengender Selbstverbesserungsversuch und hat nichts mit einem jener fromm-therapeutischen Selbsthilfekonzepte zu tun, wie sie in christlichen Kreisen verbreitet sind. Wenn wir uns als Christen selbst führen, schöpfen wir nicht aus Ressourcen, die aus uns selbst kommen oder die wir selbst produzieren können. Wir schöpfen aus Ressourcen, die in Gott sind und die er uns schenkt. Wir handeln in Abhängigkeit von dem, was er uns aus reiner Liebe und Gnade zuspricht und in uns hineinlegt. Ist dies nicht die Quelle, die uns speist, bleiben wir auf uns selbst geworfen. Wer sich auf diese Weise selbst führen will, kommt nicht weit. Er bleibt bei Bewältigungsstrategien stehen, zu denen ihn sein Wille zu motivieren vermag. Doch schon morgen verfolgt dieser ein neues Ziel und lässt den alten Vorsatz fahren. Uns aus eigener Kraft führen zu wollen, überfordert uns nicht nur, es ist auch Ausdruck maßloser Selbstüberschätzung. Wir bilden uns ein, das gute Leben selbst auf die Reihe zu kriegen.
Wenn mich aber das Evangelium von Jesus Christus trägt, handle ich als ein von Gott Versorgter, Befähigter und Ermächtigter. Als einer, der von Gottes Geist geführt und erfüllt ist. Auf diesem Boden gedeiht die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, mich selbst zu führen und mein Handeln auf das Gute auszurichten. Sie ist die folgerichtige Konsequenz von Gottes Wirken in meinem Leben.
Gleichzeitig wird uns dieses Leben fordern. Das ist das Wesen der Gnade. Der Schweizer Theologe Adolf Schlatter sagte: „Die Gnade beruhigt und bewegt uns.“ Wehe, sie bewegt uns, ohne uns zu beruhigen. Das ist frommer Krampf. Wehe, sie beruhigt uns, ohne uns zu bewegen. Das ist vergeudete Gabe Gottes. Taten- und Wirkungslosigkeit sind keine Früchte des christlichen Glaubens, denn sie verleugnen die Kraft des Evangeliums. Dann wollen wir Gottes Segen, Hilfe, Liebe für uns selbst und belassen es dabei. Der deutsche Theologe Jürgen Moltmann schreibt: „Gott hat den Menschen erhöht und ihm Aussicht ins Freie und Weite eröffnet, aber Menschen bleiben zurück und versagen sich.“ Deshalb, so Moltmann weiter, klagt sie nicht bloß das Böse an, das sie tun, sondern „vielmehr das Gute, das sie nicht tun … die vielen kleinen Versäumnisse“ 5.
Weil die Gnade uns beschenkt, beruhigt und ermächtigt, ist sie eine befähigende Gnade. Mich selbst führen ist eine ihrer Früchte. Sie verhilft zum Tun des Willens Gottes – im persönlichen Leben, in der Gemeinde, in der Welt.
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TEIL 1 | SELBSTVERANTWORTUNG 
V or mir sitzt Gabi, eine engagierte Leiterin unserer Gemeinde. Gabi ist frustriert, weil sie mit Silvan, einem ihrer Mitleiter, einfach nicht zurechtkommt. Er hinterfragt da und dort ihre Entscheidungen und Argumente, aber nicht anders, als er es auch mir und anderen gegenüber tut. Er tut es nicht mit böser Absicht, aber zeitweise mit einer gewissen Hartnäckigkeit. Er bringt regelmäßig neue, andere Vorschläge ein. Das stresst Gabi. Sie hat das Gefühl, dass Silvan sie sabotiert. Dass er etwas gegen sie hat und sie nicht akzeptiert. Im Laufe der letzten Wochen ist Gabi zur Überzeugung gelangt, dass Silvan am falschen Platz ist und versetzt werden sollte. Sie spricht über schwerwiegende charakterliche Mängel, die sie bei ihm vermutet. Davon, dass er wohl auch im Glauben einige Probleme habe. Einmal mehr bittet sie mich, als verantwortlicher Pastor einzugreifen und etwas zu unternehmen.
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