Das ist die große Verheißung des Lebens in der Nachfolge: Als von Gott Ermächtigte und Befähigte können wir uns selbst so steuern, dass wir Gottes Wege gehen, statt unguten Gefühlen nachzugeben.
Schwierige Menschen, Feinde, Gegner – sie fordern unsere Selbstführung am meisten heraus. Vers 17 gibt uns für solche Menschen die Richtung vor. Hinter der Formulierung „… was ihnen guttun würde“ steckt das griechische Wörtchen „kalos“. Es meint das, was angemessen, nützlich, geeignet, gut und schön ist. Zurückschlagen, es heimzahlen, verletzen, verachten, verleumden – und wie das Sortiment menschlicher Boshaftigkeiten auch immer aussehen mag – entsprechen alle nicht diesem „kalos“. Sie erzeugen neue, noch boshaftere Gegenreaktionen. Auch gemeinen, fiesen, bösen Menschen gegenüber gilt der Grundsatz des Guten: Wir sollen uns überlegen, was gut, nützlich, hilfreich für sie wäre:
• Gut wäre, wenn sie durch uns etwas anderes erfahren würden als sie selbst geben. So sehen sie, dass es auch anders geht.
• Gut wäre, wenn sie mit ihren bösen Absichten und Gemeinheiten ins Leere laufen würden und nicht zum Ziel kommen, weil wir anders darauf reagieren, als sie erwarten. Sie wollten siegen, zerstören, verwunden, ausschalten. Würden wir uns auf dieselbe Ebene begeben, hätten sie ihr Ziel erreicht. Halten wir ihnen aber Gutes entgegen, schießen ihre Pfeile ins Leere.
• Gut wäre, wenn ihr Herz Heilung und Veränderung erfahren würde. Bösen Menschen wurde fast immer irgendwo in ihrem Leben auch Böses zugefügt. Wer ständig und mutwillig verwundet, ist selbst ein Verwundeter. Deshalb segnen und beten wir für den anderen: dass er Gottes heilende Berührung zulassen kann, die seinem Treiben ein Ende bereiten wird.
• Gut wäre, wenn böse Menschen davor bewahrt würden, ihr Böses ungehindert fortsetzen zu können. Deshalb beten wir, dass Gott sich ihnen in den Weg stellt. Das bewahrt nicht nur ihre Opfer vor noch mehr Schaden, es bewahrt auch die Täter vor noch tieferer Schuld. Wir beten auch um die Kraft, dass wir uns dem Bösen entgegenstellen können, wo es in unserer Verantwortung steht und wo wir die Möglichkeit dazu haben. Dem anderen gegenüber mutig Grenzen zu setzen, heißt: uns selbst, andere und auch den Täter schützen. Deshalb zögern wir nicht, es zu tun, wo es uns möglich ist.
• Gut wäre, wenn aus Bösewichten Guttäter würden. Das ist möglich, wenn die Liebe Gottes ihr Herz erreicht. Sie brauchen die Erfahrung des „Erbarmens Gottes“ (Vers 1), das Sünder gerecht spricht und neu macht. Vielleicht sind wir der einzige Mensch, durch den Gott dem anderen zeigen kann, wer und wie er ist. Deshalb bete ich um Kraft und um Möglichkeiten, ihm trotz allem Gutes zu tun und ihn auf Gott hinzuweisen (siehe Vers 20). Denn: Nur Geliebte können umkehren.
Was bedeutet es, sich selbst zu führen? Weshalb ist das ein relevantes Thema? Ich habe in diesem ersten Teil des Buches diese Fragen zu beantworten versucht. Dabei war mir eine vom christlichen Glauben geprägte Sichtweise ein besonderes Anliegen. Nicht nur, weil unsere Selbstführung auf diesem Boden gute, das Leben und Beziehungen fördernde Auswirkungen hat. Die biblischen Wurzeln machen auch deutlich, wie relevant das Thema für uns ist. Uns selbst führen ist ein konkreter Ausdruck davon, dass wir Gott ernst nehmen, mit ihm und für ihn leben wollen. Es ist ein zentraler Aspekt glaubwürdiger Christusnachfolge!
Was alles dazugehört und wie sie sich konkret gestalten lässt, damit beschäftigen wir uns in den verbleibenden Teilen und Kapiteln dieses Buches.
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Teil 2 | SELBSTKLÄRUNG

Fasziniert schaue ich Emily zu. Zum fünften Mal innerhalb weniger Minuten rappelt sie sich vom Boden auf. Ihr Halt ist unsicher, sie muss sich an einer Wand oder einem Stuhl festhalten. Dann steht sie auf beiden Beinen. Sie verharrt einen Moment, als wolle sie sicherstellen, dass die Beine sie auch wirklich tragen. Schließlich löst sie ihre Hand vom Stuhl, bleibt wieder einen Moment stehen. Dann ein erster Schritt. Noch einer. Emily ist nicht mehr zu bremsen. Mutig folgt Schritt auf Schritt. Mancher etwas wackelig, zögerlich, andere sicher und entschlossen. Nach ein paar Metern scheint sie über einen unsichtbaren Gegenstand zu stolpern und stürzt. „Was war das denn?“, scheint ihr irritierter Blick zu sagen. Doch sie gibt nicht auf. Sie kriecht zur nächsten Wand und zieht sich erneut an ihr hoch …
Emily ist vierzehn Monate alt und gerade dabei, laufen zu lernen. Mit welcher Beharrlichkeit sie allen Stürzen und scheinbaren Misserfolgen trotzt! Selbst dutzendfaches Umfallen bringt sie nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen. Eines Tages wird Emily stundenlang laufen können, ohne auch nur einmal zu stolpern. Sie wird Berge besteigen können, die Schweiz durchwandern. Und doch beginnt alles hier zu Hause im Wohnzimmer: mit dem Hochziehen am Stuhlbein und den ersten wackeligen Schritten quer durch die Wohnung.
Auch andere Fähigkeiten lernen wir nach und nach. Tanzen zum Beispiel. Wer einen Tanzkurs besucht, bekommt als Erstes einige Grundschritte beigebracht. Alle anderen Tänze – Tango, Salsa, Walzer – bauen darauf auf. Das zügige Arbeiten am Computer beginnt mit einem Kurs in Tastaturschreiben. Lesen und Schreiben beginnen mit dem Erlernen von Buchstaben. Ein Instrument spielen baut auf einer Grundkenntnis von Noten und Musiktheorie auf. Vieles, was wir später wie von selbst beherrschen, hatte seine Anfänge, beruht auf Grundlagen und Voraussetzungen. Wir beginnen selten mittendrin, sondern vorne. Am Anfang. Von dort entwickeln wir uns weiter.
Auch sich selbst führen beginnt mit ersten Schritten. Dazu gehört die Selbstklärung, die ein Prozess ist. Dabei versuche ich zu verstehen, wer ich bin, was ich kann und was ich möchte. Als Christ stelle ich mir diese Fragen aus einer bestimmten Perspektive: Ich frage, wie Gott mich sieht. Wie er mich gewollt und gemacht hat. Was er mit mir vorhat. Welche besonderen Eigenschaften, Stärken und Grenzen mein von ihm geprägtes Leben ausmachen.
Wenn ich mich an dieser Stelle besser verstehe, wird mich das ermutigen. Es entsteht eine innere Vergewisserung; Dankbarkeit für den Reichtum an Eigenschaften und Fähigkeiten, die Gott in mich hineingelegt hat; Zuversicht, dass er mir damit genug Chancen und Möglichkeiten anvertraut hat, damit ich meinen Platz in diesem Leben finden, einnehmen und behaupten kann. Es entsteht aber auch Entlastung. Die Selbstklärung befreit mich von der Illusion, Dinge können und tun zu müssen, die gar nicht zu mir passen, weil sie nichts mit mir und meinen Gaben zu tun haben. Meine Grenzen zu kennen und zu akzeptieren, hilft mir, loszulassen, was nicht meins ist und es auch nie werden muss.
Bei Emily waren es erste, tapsige Schritte. Für uns, die wir uns selbst führen möchten, ist die Selbstklärung der Anfang, auf dem alles andere aufbaut. Die folgenden Kapitel helfen Ihnen, wichtige persönliche Lebensfragen zu klären:
• Wer bin ich? Es geht um die Frage, was und wer Ihre Identität stärkt (Kapitel 7).
• Was kann ich? Es geht um die Frage, was Ihre besonderen Fähigkeiten, Eigenschaften und Stärken sind und worin Ihre persönliche Speerspitze besteht (Kapitel 8).
• Was und wohin will ich? Es geht um die Frage, welches Ihre unverzichtbaren Leitwerte und Grundsätze sind, anhand derer Sie Ihre Aufgaben und Ihre Beziehungen gestalten wollen (Kapitel 9).
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