Nachdem ich seinen Verband gründlich kontrolliert hatte, verließ ich den Raum, um Dr. Sharma das Rezept ausstellen zu lassen.
»Ein Freund von dir?«, fragte Dr. Sharma und grinste, während er auf seinem Rezeptblock herumkritzelte.
»Nachbar. Oz ist in Xanders alte Hütte gezogen.«
»Ah. Netter Junge. Was hat es denn mit ihm auf sich?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Er ist nur vorübergehend hier. Aus New York. Er ist Modedesigner, soweit ich weiß.«
Dr. Sharma sah mich prüfend an, als er mir das Rezept reichte. »Du solltest ihn vielleicht ein bisschen im Auge behalten, Jake. Er hat auch ziemlich üble Hämatome an der Hüfte. Und einen tiefen Kratzer am Knöchel. Ich glaube, er ist es nicht gewohnt, in der Wildnis zu leben. Der Mann braucht eindeutig einen Beschützer.«
»Ihm geht’s gut«, knurrte ich. »Und außerdem ist das nicht mein Problem.«
Dr. Sharma grinste besserwisserisch. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du da falsch liegst, Jake«, meinte er und lachte.
Als ich ins Behandlungszimmer zurückkehrte, war Oz weg. Warum war er einfach gegangen, ohne sein Rezept mitzunehmen? Ich eilte zum Empfangsschalter, blieb aber abrupt stehen, als ich Oz’ Lachen hörte. »Ich habe dir ja gesagt, Farbe ist so etwas wie meine Muttersprache.«
Das Lachen einer Frau erklang, dann hörte ich Nancy, die Rezeptionistin, sagen: »Vielleicht kannst du uns dann helfen. Doktor Sharma hat einen Innenarchitekten beauftragt, die Lobby zu verschönern. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich seine Ideen mag.«
Ich ging einen Schritt um die Ecke, sodass ich einen besseren Blick hatte. Von hier aus konnte ich Oz sehen, der mit Nancy und Becky, Dr. Sharmas Krankenschwester, redete.
Oz studierte eine Art Skizze, die Nancy ihm entgegenhielt. Er verzog kurz das Gesicht, setzte dann ein Lächeln auf und sagte: »Oh, ähm … also … nun ja, so könnte man es auch machen.«
Becky schnaubte. »Raus mit der Sprache, Oz. Sag uns, was du denkst.«
Oz wurde ein wenig rot. Mein Körper reagierte sofort darauf. »Ihr müsst bedenken, dass ich Modedesigner bin, nicht Innenarchitekt. Aber ich weiß, dass das Wartezimmer einer Klinik beruhigend wirken sollte. Diese Farben sind überhaupt nicht beruhigend. Ich meine, machen sie euch nicht auch irgendwie aggressiv? Außerdem … ein Behandlungszimmer sollte sicherlich nicht blutrot eingerichtet sein. Auch, wenn man dann vielleicht die Blutflecken besser verbergen kann.«
Oz’ mangelndes Taktgefühl entlockte mir ein Lächeln. Er hatte eben eine starke Meinung dazu. Ich hatte ja schon miterlebt, wie wichtig ihm Farben waren. Ja, der Beweis dafür lag sogar noch immer auf meinem verdammten Sofa. Aus irgendeinem Grund hatte ich mein grünes Hemd noch immer nicht vom Kissen entfernt. Und auch die Decke lag noch auf meiner Couch.
Die Damen begannen zu kichern und nickten synchron. »Das hat Becky auch gesagt«, meinte Nancy. »Es ist ein bisschen penetrant. Mir fällt kein besseres Wort ein.«
»Hm«, machte Oz und legte den Kopf schief. »Ich frage mich, warum der Designer diese eckigen Bänke ausgewählt hat. Vielleicht weil sie leicht zu reinigen sind? Oder um Geld zu sparen? Sie sehen jedenfalls richtig unbequem aus. Wenn es trotzdem unbedingt diese Bänke sein müssen, würde ich Rückenlehnen an der Wand anbringen, damit die Leute sich wenigstens anlehnen können. Es gibt da wirklich gute Stoffe, die man auch leicht reinigen kann. Wenn die Polsterung alt oder fleckig wird, kann man die Überzüge einfach austauschen. Das geht ganz schnell mit Holzplatten und einem Tacker.«
»Das hier ist der Bereich für Kinder«, fügte Nancy hinzu. »Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wie die Kinder sich reihenweise den Kopf an den Kanten anschlagen.«
»Dann solltet ihr eine andere Lösung finden. Kinder müssen sich in einem Arztwartezimmer gut aufgehoben fühlen und diese scharfen Kanten wirken nicht sonderlich beruhigend«, meinte Oz. Gedankenverloren studierte er die Skizze und ich konnte förmlich sehen, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf drehten.
Becky nickte. »Wie wäre es mit Sitzkissen auf dem Boden? Oder Sitzsäcken aus einem dazu passenden Stoff? Dann hätten sie es bequem und könnten gemütlich ein Video ansehen oder mit dem Spielzeug spielen, falls es mal länger dauert.«
Oz nickte begeistert. »Ganz genau. Und wenn ihr hier einen hüfthohen Schrank hinstellt, könnte man dort das Spielzeug aufbewahren. Der Schrank würde die Bereiche visuell voneinander abgrenzen, aber die Eltern hätten ihre Kinder trotzdem noch im Auge.«
Nancy sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an. »Du bist brillant! Wenn wir nur dich für die Einrichtung engagiert hätten. Also, welche Farben würdest du nehmen?«
Bevor Oz antworten konnte, bog Dr. Sharma um die Ecke und klopfte mir auf die Schulter. »Hast du Oz’ Behandlungsakte noch?«, fragte er. Seine Stimme war so laut, dass die Damen und Oz sich zu uns umdrehten. Oz versteifte sich, als er mich erblickte. Das Funkeln in seinen Augen, das gerade noch geleuchtet hatte, erlosch.
»Ja, klar. Hier«, antwortete ich und reichte ihm die Akte, hielt das Rezept aber weiterhin fest. »Doc, Oz hatte ein paar großartige Ideen für die Umgestaltung der Lobby«, rief Nancy. »Und er findet auch, dass die Farben schrecklich sind.«
»Ach ja?«, fragte Dr. Sharma interessiert und schritt an mir vorbei. »Welche Ideen denn?«
Oz zögerte, bevor er antwortete. Als er es tat, wirkte er weniger enthusiastisch als vorher. Und ich wusste genau, warum. Er wartete sicher nur darauf, dass ich ihn unterbrach. Ihm widersprach. Er wiederholte zwar alles, was er gerade eben gesagt hatte, aber ohne Begeisterung. Sein Lächeln war steif und gezwungen. Fuck. Was hatte ich da nur angerichtet?
»Verdammt«, murmelte Dr. Sharma, studierte die Skizze und dann Oz. »Ihre Ideen gefallen mir viel besser, aber wir haben den Vertrag mit dem Innenarchitekten schon unterschrieben. Das Budget ist knapp bemessen, also können wir uns keinen zweiten Entwurf leisten.« Er musterte Oz eingehend. »Wir behandeln nicht nur die Bürger von Haven, sondern auch Patienten aus den umliegenden Orten. Manche von ihnen können sich keine Krankenversicherung leisten und die staatliche Unterstützung deckt nicht immer alles ab. Also haben wir leider keinen finanziellen Puffer.«
»Sind Sie sich sicher, dass Sie schon einen Vertrag für die gesamte Umgestaltung unterschrieben haben?«, fragte Oz. »Bei Designern ist es oft so, dass man erst mal nur für den Entwurf zahlt. Wenn das der Fall ist, könnten Sie freiwillige Helfer für die tatsächliche Umgestaltung suchen. Ich könnte …« Oz unterbrach sich sofort, als sein Blick auf mich fiel. »Ich meine, die Leute helfen sicher gerne. Und ich könnte die Ideen, die ich erwähnt habe, gerne aufschreiben.« Oz senkte den Blick.
Meine Brust zog sich zusammen, als ich verstand, was gerade passiert war. Er hatte seine Hilfe anbieten wollen. Und dann hatte er es doch nicht getan. Wegen mir. Weil ich mich ihm gegenüber wie ein Arschloch verhalten hatte. Und weil er nicht eine Sekunde länger als nötig in meiner Gegenwart verbringen wollte. Eigentlich hätte ich Erleichterung verspüren sollen. Tat ich aber nicht. Nicht einmal ein bisschen.
»Wir werden uns wohl den Vertrag noch einmal ansehen müssen«, sagte Dr. Sharma.
»Ich habe ihn hier«, sagte Nancy und eilte zum Empfangsschalter.
»Ich werde dann mal das Labor anrufen. Wegen Mister Kellers Diagnose«, teilte Becky mit und machte sich von dannen.
Nancy kehrte zurück und reichte dem Arzt eine Mappe. »Jake, würdest du vielleicht kurz einen Blick darauf werfen?«, fragte Dr. Sharma und hielt den Ordner hoch. »Du bist in solchem Zeug viel besser«, fügte er hinzu.
Am liebsten hätte ich gelacht. Ich war so ahnungslos wie er, wenn es um diese Dinge ging. Aber ich zwang mich dazu, auf ihn zuzugehen und die Mappe zu nehmen. In diesem Moment fiel mir das Rezept wieder ein. Rasch reichte ich es Oz. »Dein Rezept. Gleich die Straße runter ist eine Apotheke. Polers heißt sie. Sie wird von einem Mann namens Gus geführt. Bei ihm bist du in guten Händen«, sagte ich leise. Ich hasste die Tatsache, dass Oz’ Lächeln nun völlig erloschen war. So, als hätte man eine Glühbirne ausgeknipst.
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