Meine Emotionen liefen Amok. Wieso machte es mich gerade so fertig, was Xander gesagt hatte? Vielleicht, weil ich bisher noch nie wirklich darüber nachgedacht hatte. Doch es stimmte, er war wirklich mein bester Freund. Ich hatte es nur bisher noch nicht begriffen. Und die Erkenntnis tat weh. Sie erinnerte mich nämlich daran, wie sehr sich in den letzten Jahren alles verändert hatte. Ich hatte mich emotional so isoliert, dass mir der Gedanke, einen besten Freund zu haben, völlig fremd vorkam.
»Okay, sag mir einfach, wann ich da sein soll.«
»Du kommst trotzdem auch zu Thanksgiving, oder?«, fragte Xander.
Vor fünf Minuten hätte ich noch versucht, mich herauszureden. Aber jetzt nickte ich nur und sagte: »Ja, ich bin dabei.«
»Okay, wir besprechen dann alles. Außer, du magst dich schon vorher mal mit mir zusammensetzen. Vielleicht bei einem Bier?«, fragte Xander hoffnungsvoll.
Ich lächelte in mich hinein. »Vielleicht braue ich bald mal wieder neues Bier. Eventuell sobald der Kälteeinbruch vorüber ist.«
»Gut«, sagte Xander. »Tu mir einen Gefallen und pass ein bisschen auf Oz auf, ja? Vor allem, wenn die Kältewelle wirklich so lange andauert, wie vorhergesagt wurde. Ich habe das Gefühl, er kommt noch nicht so gut damit zurecht, auf eigenen Beinen zu stehen.«
Ja, klar, und wenn ich schon dabei bin, kann ich mir ja gleich den Arm absägen und ihn an Oz’ verrückten kleinen Hund verfüttern.
»Sicher«, murmelte ich. »Hör mal, ich muss jetzt los«, fügte ich nach einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett hinzu.
»Okay, wir hören uns dann bald. Ruf doch in ein paar Tagen mal an und sag mir Bescheid, ob es euch da oben auch gut geht.«
»Wird gemacht«, antwortete ich. Wärme breitete sich in meinem Bauch aus. Es war schon lange her, dass sich jemand so um mich gekümmert hatte, wie Xander es tat. Ich war im Moment nicht in der Lage, Xander ebenfalls die metaphorische Hand zu reichen, die er mir ununterbrochen entgegenstreckte. Aber ich konnte ja zumindest ab und zu seine Hilfe annehmen. Ich verabschiedete mich, legte auf und startete das Auto.
Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, den Berg hinabzufahren. Als ich die Stadtgrenze von Haven passierte, ließ meine Anspannung etwas nach. Ich mochte es zwar, Wildnisführer zu sein und über die Wintermonate hier und da einen Auftrag in den Bergen anzunehmen, aber nichts brachte mir mehr inneren Frieden als die gemeinnützige Arbeit im Krankenhaus von Haven. Es war einfach nur verrückt, dass ich immer wieder hierher zurückkehrte und dem völlig überarbeiteten Dr. Sharma meine Dienste anbot. Trotzdem tat ich es wieder und wieder, meist mehrmals die Woche. Zum Glück hatte Dr. Sharma schnell begriffen, dass meine Hilfe an einige unausgesprochene Regeln geknüpft war. Zum Beispiel durfte er nicht viele Fragen über meine Vergangenheit stellen. Eigentlich gar keine. Ich fragte mich oft, ob der Mann nicht etwas durchgeknallt war. Immerhin erlaubte er mir, ihm zu helfen, und das, ohne jemals irgendeinen Beweis für meine medizinische Ausbildung gesehen zu haben. Natürlich stellte ich keine Rezepte aus und ich machte meist nicht mehr, als etwas Erste Hilfe zu leisten. Dennoch war das, was ich tat, eigentlich strengstens verboten. Allerdings brauchte ich die Stelle genauso dringend, wie Dr. Sharma meine Hilfe brauchte. Ich war eben mit Leib und Seele Arzt. Wenn es einen Weg gab, diesen Teil von mir zu unterdrücken, hatte ich bisher noch nicht herausgefunden, welchen.
Mein Stresslevel stieg schlagartig wieder an, als ich auf den Parkplatz einbog und den feuerroten Jaguar erblickte. Was zur Hölle machte er ausgerechnet hier? Bevor ich die Frage überhaupt fertig gestellt hatte, fiel mir bereits die Antwort ein. Rasch stieg ich aus meinem Truck. Ich würdigte die Rezeptionistin Nancy kaum eines Blickes, als ich durch das leere Wartezimmer der Klinik eilte.
»Hey, Jake«, sagte Becky, die Oberkrankenschwester, als ich die Station betrat.
»Ist der Doc da?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass er da war.
»Raum zwei, aber da ist grad ein Patient drin«, antwortete sie.
»Danke«, murmelte ich und eilte zu Raum zwei. Ich machte mir nicht die Mühe, anzuklopfen, bevor ich die Tür aufriss. Der Doc und Oz sahen mich überrascht an.
»Jake«, sagte der Doc. »Brauchst du etwas?«
Ich ignorierte ihn. Mein Blick war fest auf Oz gerichtet. Aber nicht auf sein Gesicht. Nein, auf sein Handgelenk. Sein knallrotes, zweifellos entzündetes Handgelenk. Und es war nur aus einem Grund entzündet. Weil ich ein verdammter Feigling war und mich nicht davon überzeugt hatte, dass es gut verheilte. Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich hier tat, sah ich den Doc an und sagte: »Es ist okay, Jai. Ich übernehme ab jetzt.«
Der Doc starrte mich an, widersprach aber nicht. Er verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.
Ich griff nach Oz’ verletztem Arm, doch er hielt ihn eng an seine Brust gedrückt.
»Mir geht’s gut. Doktor Sharma hat mir gerade geholfen. Du kannst wieder gehen.«
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als ich seinen kalten Tonfall vernahm. Es hörte sich aus seinem Mund so falsch an. Normalerweise war Oz doch immer so fröhlich und quirlig. »Bitte lass mich einen Blick darauf werfen, Oz.«
Er hielt den Arm weiterhin an seine Brust gedrückt. »Nicht nötig. Du hast mehr als deutlich gesagt, dass ich hierherkommen soll, wenn ich Hilfe brauche. Also habe ich das getan. Bitte geh und hol den Arzt.«
»Ich will nur sehen, wie es deiner Verbrennung geht«, beharrte ich.
Oz’ Kiefer war angespannt, seine Augen funkelten eisblau. »Und ich will einen Arzt sehen.«
»Verdammt, Oz, ich bin Arzt. Und jetzt zeig mir deine Verbrennung.«
Seine wundervollen blauen Augen weiteten sich. Wir starrten einander einfach nur an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal auf diese Art die Stimme erhoben hatte.
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht …«
Er streckte mir den Arm entgegen. »Also schön. Hier, bitte.«
Ich griff nach seinem Arm und hielt ihn vorsichtig fest. Tatsächlich, er war entzündet. Ohne ihn loszulassen, griff ich in den Schrank neben mir und sammelte die nötigen Utensilien zusammen, um die Wunde zu säubern.
»Ich wusste, dass du Arzt bist«, sagte Oz leise. »Du hast mich angelogen.«
»Ich habe nicht gelogen.«
»Du hast gesagt, du kennst dich mit Erster Hilfe aus, weil du Wildnisführer bist.«
»Das war nicht gelogen«, sagte ich. Nach einem kurzen Moment der Stille begann ich, die Wunde neu zu verbinden. Als ich aufsah, merkte ich, dass er mich wütend anfunkelte. Ich atmete tief durch. »Es tut mir leid, Oz.«
»Pff. Wie auch immer«, sagte er und schniefte. Dann sah er weg. »Warum erzählst du mir das überhaupt? Sag mir doch wieder, dass ich abhauen soll.«
Ich griff zu seinem Gesicht, nahm es in beide Hände und hob sein Kinn sanft an. Er wich meinem Blick aus und sah überall hin, nur nicht zu mir. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe. Außerhalb der Klinik weiß niemand davon. Und die Leute hier wissen es auch nur, weil ich hier aushelfe.«
Endlich erwiderte er meinen Blick und hob eine Augenbraue. »Warum? Warum um alles in der Welt hältst du so etwas geheim?«
»Das ist nicht so wichtig. Es hat jedenfalls nichts mit dir zu tun, sondern mit anderem Zeug, das für dich uninteressant ist. Aber es tut mir wirklich leid. Ich hätte dir nicht sagen sollen, dass du hierherkommen sollst statt zu mir. Deine Verbrennung hat sich entzündet und ich sage Doktor Sharma, dass er dir Antibiotika verschreiben soll, okay?«
Mir fiel auf, wie sich sein Kiefer verkrampfte. Er war eindeutig sauer auf mich. Natürlich, niemand hörte gerne, dass eine wichtige Sache ihn nichts anging. Aber es war ja nicht so, als hätte ich eine Wahl.
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