Alles drehte sich, ihr war schlecht vor Müdigkeit.
Selbstverständlich würde sie bestimmen. Wer sonst sollte denn die Beschlüsse fassen!
Sie schlich in den Flur hinaus.
Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, Anne lag im Bett und las in ihrem Gute-Nacht-Buch, Alice im Wunderland. Sie war mit dem Vorschlag, ein Bier zu teilen, sofort einverstanden.
Mirjam putzte sich geräuschvoll die Zähne: erst hatte sie gesagt, daß Anne doch endlich einmal wieder bei ihr schlafen sollte; dann entschuldigte sie sich und verschwand und schrieb. Nach einer halben Stunde tauchte sie auf und brauchte sie. War Anne wach geblieben, weil sie geahnt hatte, daß sie kommen würde? Manchmal wußte Anne mehr über den Prozeß des Schreibens als sie selbst.
Sie kroch auf allen Vieren ins Schlafzimmer und steckte die Hand unter die Decke.
– Na sowas! Zehn dänische Frauenzehen!
– Iiiih! Hast du was geschrieben?
Mirjam biß in die zappelnden Zehen, holte dann das Bier und zog sich das Nachthemd über.
– Mumien, murmelte sie. – Die Schreibmaschine produziert bloß Mumien. Jedes Mal, wenn das Leben mich so richtig packt – wie heute abend – verliere ich die Lust, es zu beschreiben. Das Leben soll gelebt werden, nicht beschrieben werden –
Anne wackelte mit den Zehen: – Dann tus doch.
Anne Silberhaar. Trocken wie immer. Keine Halbheiten.
– Das klingt so einfach.
– Ich bin müde, Jammer.
– Beunruhigt es dich nicht, daß die Zeit einfach vergeht?
– Hör jetzt auf. Du bringst mich dazu, deinen Gedanken zu folgen, so daß ich ganz wirr werde und nicht schlafen kann! Ich denke im Moment sehr viel über die Zeit nach. Komm jetzt, wir schlafen. Und bevor wir schlafen, bekommen wir noch eine kleine Portion Alice und ein paar Schlucke Bier.
– Die Frauen auf der Insel leben das, wovon wir anderen seit Jahren bloß reden –
– Weißt du, was ich gerade gedacht habe? Daß sie eine kleine Emanze ist, diese Alice. Hör zu:
”Unter einem Baum vor dem Haus stand ein gedeckter Tisch, und der Hutmacher und der Schnapphase hatten sich schon daran niedergelassen und tranken Tee. Zwischen den beiden saß eine Siebenschläfermaus und schlief vor sich hin, während die beiden anderen sich mit den Ellenbogen auf sie aufstützten und sich über ihren Kopf weg unterhielten. ”Unbequem für die Siebenschläfermaus“, dachte Alice; ”aber da sie schläft, macht es ihr wahrscheinlich nichts aus.“ Der Tisch war schon eher eine Tafel, doch saßen alle drei eng zusammengedrängt in einer Ecke. ”Besetzt! Besetzt!“ riefen sie, als sie Alice nähertreten sahen. ”Von besetzt kann doch gar keine Rede sein!“ sagte Alice empört und setzte sich in einen großen Sessel am Ende des Tisches“ ...
Mirjam dachte darüber nach, ob es eine gute Idee war, Gitte aus der Ehe mit dem Atomforscher ein Kind haben zu lassen, um zu sehen, wie diese Aufgabe gelöst wird. Kim würde nie ein eigenes Kind haben wollen. Die vierzehnjährige Ricke aus ihrer siebten Klasse war fast wie ein Kind für sie, eine kleine Schwester –
– Du hörst ja überhaupt nicht zu!
– Doch, ich hör zu. ”Du mußt zum Friseur, sagte der Hutmann –“
– Der Hutmacher. Gute Nacht, Jammer.
Anne streichelte sie liebevoll und klappte das Buch zu. Sie legten sich zum Schlafen hin, Mirjam war wild entschlossen, ihre Inselfrauen zu vergessen.
Woher kam der Name Sara? Eine Sara war eine dunkle, üppige Frau mit einem kleinen Knoten und einem tiefen Lachen. Sie hatte das Gefühl, daß die ursprüngliche Sara irgendwo bei den besten Abenden ihrer Kindheit, wenn sie zu Hause Gäste hatten, zu finden sein könnte, aber sie grub nicht nach. Ließ es liegen, zufrieden damit, daß wenigstens der Name einer Hauptperson von Anfang an paßte. Sara war eine gute Urmutter für die Frauen auf der Insel.
Fünf Minuten später war sie im Arbeitszimmer und wühlte die Zeitungen aus dem untersten Regal hervor, sie hatte einen ganz bestimmten Artikel im Kopf.
”Vierzehnjährige verschwunden“ ... ”Biologiestudentin begeht Selbstmord“ ... da war es: ”Weiblicher Psychiater schickte Patienten auf Insellager.“ Sie mußte irgendwie mit dieser Psychiaterin in Kontakt kommen, das klang nach Gitte. Sie schnitt den Artikel aus und raste bei einem langgezogenen Schrei von der Straße unten zum Fenster. Letzte Woche war eine Frau unten im Hausgang überfallen worden.
Auf dem Bürgersteig standen zwei Katzen, gebuckelt vor Adrenalin, den Schwanz in der Luft. Die eine schrie noch einmal wie eine Frau in Lebensgefahr. Sie ging beruhigt hinaus und holte sich ein Bier, steckte die Arme in Annes dicken Frotteebademantel und setzte sich an die Maschine.
Irgendwie kam sie nach Hause. Kam aufs Fahrrad und erreichte das graue Betongebäude mit den Studentenzimmern im obersten Stock. Mit dem Aufzug hoch und den Gang entlang mit dem unwirklichen Gefühl, neben sich zu stehen. Erst als sie sich gegen die Tür warf und von innen zuschloß, wachte sie auf. Wie vom Blitz erhellt sah sie sich wieder im Hausgang stehen und den Lichtschalter suchen, hörte die Stimme genau hinter sich. – Du brauchst kein Licht anzumachen. Freundlich, fast liebevoll. Erst als sie sich umdrehte und seinen Gesichtsausdruck sah, wurde ihr klar, daß es keine Freundlichkeit war. Die Bewegungen, mit denen er nach ihr griff, waren fast zärtlich. – Ich tu dir nichts. Nicht, wenn du stillhältst. Du willst doch gern, komm. Ich tu dir nichts –
Alles, was sie im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, war weg, nur ein schwacher Impuls, nach Hilfe zu rufen, war irgendwo in ihrem Bewußtsein. Sie weigerte sich, zu glauben, daß es ein richtiger Uberfall war, wollte bloß weg, heim, ihr Fahrrad haben –
Dann reagierte sie. Der Schrei erschreckte sie beide. Als die Stille in den geschlossenen Hof durch den Schrei zerrissen wurde, schlug er ihren Kopf gegen die Wand und versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Sie warf den Kopf zur Seite, schlug planlos um sich, traf ihn wohl auch, schrie und schrie, schluchzte in die Dunkelheit, während tausend Fragen in ihr explodierten. Was habe ich ihm getan, warum gerade ich, Mami, Mami – sie hörte undeutlich, durch die Schläge, die sie abwechselnd auf beiden Seiten des Kopfes trafen, eine Frauenstimme: – Was ist los? Was geht hier vor? Und einen Mann, der antwortete. – Ich gehe runter und schau nach.
Erst da merkte sie, daß ihre Hosen zerrissen waren und daß er die ganze Zeit versucht hatte, den Schwanz hineinzubekommen. Er roch stark und preßte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie, hielt sie mit der einen Hand fest und schlug mit der anderen Hand und rieb sich an ihrem Bauch – der Brechreiz kam in Wellen, sie schrie wieder, es flimmerte ihr vor den Augen, dann hörte sie endlich, daß jemand gelaufen kam. Der Mann hörte es auch und ließ sie genauso plötzlich los, wie er sie gepackt hatte und verschwand durch das Hoftor.
Jemand machte das Licht an: – Was ist passiert? Wer ist das?
Kim lehnte sich weinend gegen die Mauer, wo sie auf dem Asphalt zusammengesunken war: – Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, er hat mich geschlagen und versucht, zu vergewaltigen – ich habe keine Ahnung, warum, wo er hergekommen ist, war nur zu Besuch bei meinem Kollegen, der hier wohnt und wollte im Hof mein Fahrrad holen – sie merkte, daß sie fast ihr Hiersein entschuldigte und schwieg.
Ihr Retter war ein junger, blasser Mann mit Brille und ordentlich gekämmten Haaren. Er sah wie ein verlegenes Kind aus, und beim Wort Vergewaltigung trat er einen Schritt zurück. Er versuchte, ihr zu helfen, faßte ihren Arm vorsichtig mit zwei Fingern an und bekam sie auf die Beine, versuchte, sie zu trösten, fragte, wo sie wohnte, ob sie vielleicht nicht lieber zu ihrem Kollegen zurückgehen wollte. Sie nickte: sie würde zu Torben und Helle hinaufgehen, das war wohl das beste. Klopfte sich Mörtel und Schmutz ab, zog immer noch schluchzend die Hose hoch und holte ein Taschentuch hervor.
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