Sie sieht stark aus, dachte Kim, heute abend kann sie Berge versetzen. Die ganzen widerstreitenden Gefühle und gewaltsamen Erlebnisse, die sich den Abend über in ihr angesammelt hatten, kippten um und veränderten etwas in ihr, etwas Entscheidendes.
– Wir sind völlig rechtlos im Wohlfahrtsstaat. Wir müssen uns prügeln, sobald wir nur einen einzigen eigenen Gedanken laut sagen; die Gedanken, die Sara und Großmutter uns vermitteln wollte. Vor ein paar Jahren war es schwer, aber nicht unmöglich, die Krankenhausatmosphäre von innen zu beeinflussen. Heute setzt man seine Stelle aufs Spiel, wenn man auch nur den kleinsten Pieps von sich gibt.
Sie stellte sich vor Saras große Bergvision und starrte Löcher in die wohlbekannte Leinwand: – Und wir lassen es uns gefallen. Lassen uns immer alles gefallen, darin sind wir Frauen Experten, und wir ziehen in eine Frauenwohngemeinschaft, um das bißchen Kraftreserve zu bekommen, das wir dann wieder in den Arbeitsmarkt schleudern können. Vor allem, seit wir von den anderen weggezogen sind, finde ich alles so schwierig. Ich gehe zu so vielen Sitzungen, wie ich nur kann, aber manchmal finde ich, daß wir mit diesen Sitzungen nicht viel mehr erreichen, als uns zu rehabilitieren, die schlimmsten Frustrationen zu sammeln und ganz am Schluß die nächste Sitzung zu planen, damit wir das Gefühl haben, etwas Konstruktives zu machen und es ertragen, am nächsten Morgen zur Arbeit zu gehen. Am Freitag gehen wir dann viellicht aufs Plenum und danach in die Frauenkneipe, und so um zwölf fangen wir an, uns wie richtige, lebendige Menschen zu fühlen!
Sie drehte sich erregt um: – Ist das ein Leben, mit dem wir zufrieden sein können? Ist das überhaupt ein Leben? Es ist fast wie eine Strafe dafür, daß wir uns nicht in eine etablierte Lebensweise fügen wollen, in eine Kleinfamilie. Wir müssen uns eben mit den Gegebenheiten abfinden. Aber jetzt will ich nicht mehr, Kim, nein, ich will verdammt noch mal nicht mehr!
– Ich auch nicht, flüsterte Kim vom Sofa. Ihr Kopf dröhnte. Aber irgendetwas passierte, das Gefühl, übergekippt zu sein, war immer noch stark. Ein paar Zeilen aus einem Buch, das sie gerade las, tauchten auf: ”Aber es gab Erzählungen von vor langer Zeit, als ein mutiger Entdeckungsreisender es gesehen hatte – ein großes Land, große Häuser, viele Menschen – und alles Frauen.“ c
Später erinnerte sie sich noch einmal an die Zeilen, weil Gitte sich gleichzeitig umdrehte: – Kim! Wir haben einen Brief von Tante Ada bekommen, ich war heute nachmittag hier, um ihn dir zu zeigen. Wart, ich habe ihn hier in der Tasche!
Ob es Gittes Eifer oder die Schmerzen im Kopf waren – auf jeden Fall versuchte Kim, sich aufzusetzen und die vielen Gefühle auszudrücken.
– Ada hat ihr Testament gemacht! Wir werden eines Tages die Insel und ihr Haus und die Schafwirtschaft erben. Jesus, Maria und Thit Jensen, begreifst du das: eine Insel, eine ganze Insel wird einmal uns gehören! Ein Freiraum! Kim, wir haben verdammt noch mal unseren Wehrdienst in dieser Gesellschaft abgeleistet, wir ziehen weg! Wir ziehen auf die Mölleinsel und fangen von vorne an, machst du mit!?
Kim nickte begeistert. Dann glitt alles weg in ein schwarzes, samtweiches Dunkel. Sie sank auf dem Sofa zusammen und Gitte beeilte sich, sie aufzurütteln und einen Rettungswagen zu rufen.
Es zeigte sich, daß sie eine leichte Gehirnerschütterung hatte.
Aber davon wußte Kim nichts. Sie stand an einem Strand und streckte die Arme zum Licht empor, und es war gar nicht mehr unmöglich, die Sonne zu erreichen.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.