Einige Monate zuvor hatte Charlotte die Abschnitte gelesen, die von ihrem Kennenlernen und ihrer Freundschaft handelten. Ein letztes Mal war es Mirjam gelungen, Charlottes Verteidigungslinien zu durchbrechen, sie rief aufgeregt mitten in der Nacht an. – Du hast mir mein Ich zurückgegeben! Du zeigst mir, was ich kann, wer ich bin! Du darfst kein Wort an diesem Abschnitt ändern, er ist phantastisch!
Das war das ganze Buch wert, daß der Abschnitt über sie beide gelungen war. Ihre Freundschaft blühte kurz auf, was sie mit einem Kuchenfest feierten, das sehr abrupt zu Ende war, als Mirjam Charlotte fragte, ob sie nun endlich wüßte, ob sie sich von Jens trennen wolle oder nicht. Charlotte klappte zu wie eine Auster und machte die Schale nicht mehr auf. Charlotte wurde nicht die erste Leserin von Sprünge. Die Kopie lag unberührt in der Kommodenschublade.
– Gib mir die Zeitung! Jettes Stimme zitterte.
Anne riß ihr die Zeitung aus der Hand und lief zu einer Bank, dicht gefolgt von Mirjam und Jette: – Gebt her, die Mama liest euch vor –
– Wart, hier ist es: ”Sieben Sinne – tausend Sinne“ –
– Das ist schön. Gute Überschrift!
– Überschrift?
– Lies laut! Ich kann nicht warten, bis wir zurück sind. Jette war plötzlich ungeheuer entschlossen.
– ”Sieben Sinne – tausend Sinne“. Eine Kleingruppe macht ein Buch über die zwei Jahre ihres Zusammenseins, über den Zusammenhalt und die Enttäuschungen, über Orgasmen und Gebärmutteruntersuchungen. Die Gruppe erzählte gestern bei einem Empfang im Buchcafe Kvindfolk in Kopenhagen von den Ideen, die hinter dem Buch stecken: – Es gibt jede Menge Bücher von Männern über das Thema, die jahrelang von Frauen gelesen wurden, sagte Jette Andersen, 28 Jahre und verheiratet, Mutter von Jonas, ein Jahr“ – –
Jette schrak zusammen.
– ”Sollten wir denn nicht auch über spezielle Frauenthemen schreiben können. Es sollte die Männer interessieren, es sollte sie angehen, wie das aussieht, was sie sonst nur mit geschlossenen Augen erleben!“
Mirjam gab Jette einen aufmunternden Klaps.
– ”Außerdem war Ida Hove auf dem Empfang, und sie brachte mit ihren persönlichen Interpretationen der alten Kampflieder die Luft zum Vibrieren. Ida Hove ist besser denn Je –“ –
– Kommt, wir gehen zu den anderen zurück. Jette war immer noch still. Ihre alte Nervosität war wieder da.
– Es sieht gedruckt immer anders aus, versuchte Mirjam. Sie nickte.
– Ich muß Franz anrufen, ich muß es ihm erklären – und meinen Brüdern. Auch wenn sie genau wissen, daß ich über Mutter und Vater geschrieben habe, sie haben es ja gelesen –
Als sie wieder in Janes Zimmer waren, blätterten sie alle Zeitungen durch. Die Überschrift war fast das beste. In allen drei Artikeln über das Buch klangen vorsichtige Vorbehalte an, aber alle waren begeistert über Ida und den Empfang.
Die konservative Zeitung nannte das Buch ”einen ehrlich gemeinten Versuch“. Die kommunistische bezweifelte den Wert von Selbstuntersuchungen, unterstrich jedoch die Wichtigkeit von Gesprächen in Kleingruppen. In der intellektuellen Zeitung stand ein langer Artikel von einer Historikerin, die auf gute und leicht verständliche Weise die historischen Zusammenhänge von Menstruation, Geburt und Sexualität aufzeigte.
Jette kam erleichtert vom Telefon zurück: – Er war unheimlich lieb, sagte nichts, daß ich ihn geweckt habe und meinte, wir sollten morgen darüber reden.
Charlotte stand plötzlich mit zwei Sektflaschen im Arm in der Tür.
Die nächsten Minuten waren ein einziges großes Durcheinander von knallenden Sektkorken, untergehaltenen Gläsern und Schaum, der sich über das Ganze ergoß.
– Prost! Das macht genau acht Kronen für jede!
Es war eins, als Mirjam und Anne in Richtung Norrebro aufbrachen. Der Friedhof lag dunkel hinter der Mauer und bereitete sich auf den Frühling vor.
– Ich habe Hummeln im Hintern, murmelte Mirjam.
Anne zog die Handbremse an: – Ja, setz dich rein und schreib, wenn es das ist –
Sie trugen die restlichen Blumen und die Freiexemplare in die Wohnung hinauf. Beim Anblick des Schreibtisches bekam sie ein Ziehen im Bauch: Das war es es. Mirjam murmelte etwas, daß Anne recht hätte. Sie küßten sich leicht, bevor sie die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich zumachte.
Gestern, mitten in der Hektik beim Einpacken bestellter Bücher und der Verteilung der Arbeiten für den Empfang, hatten sich ein paar Gedanken in ihrem Kopf festgesetzt, wie ein Insekt, das an der Windschutzscheibe eines Autos hängenbleibt. Sie kramte sie vor. Am Tag darauf ein Gedicht zu lesen, das ist ungefähr so, wie wenn man sich am Morgen nach einem Fest im Spiegel sieht, dachte sie. Es war nicht so leicht, wie sie es in Erinnerung hatte, die Empfindungen von Zeit und Raum waren nicht so stark wie beim Entstehen.
Sie sehnte sich nach neuen Dimensionen, sehnte sich weg. Weg aus einer Gesellschaft, in der Frauen wie Jette jahrelang in unhaltbarer Situation leben, weg von einer Presse, die immer das Sensationelle an einer Nachricht hervorheben muß. Noch ehe sie sich zu etwas entschlossen hatte, hatte sie das Romanmanuskript vor sich.
Um über die Frauen auf der Insel schreiben zu können, mußte sie sie in- und auswendig kennen. Sie mußte den ganzen Inhalt der Torte kennen, um später das kleine Stückchen, das vom Leser gegessen werden sollte, servieren zu können. Sie spannte Papier in die Maschine und versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob Anne schlief oder nicht:
”Gitte ist Psychiaterin. Sie hat gerade an einer psychiatrischen Abteilung angefangen, die für ihre Experimentierfreudigkeit bekannt ist, und sie arbeitet da seit ihrer Rückkehr aus den USA, also seit vier Monaten. Ich stelle mir vor, daß Gitte den Atomforscher geheiratet hat, weil sie weg wollte, reisen wollte, das klimatisierte Abenteuer erleben wollte. Es zeigte sich, daß ein Zusammenleben mit John nicht möglich war. Wenn der Arbeitsstreß zu groß wurde, trank er und prügelte sie. (Später wird er dann religiös und kündigt seine gute Stellung im Atomkraftwerk – und gibt den Frauen einige wichtige Informationen über eine Waffe, die gerade entwickelt wird und die bestimmte Rassen, bestimmte Gene, bestimmte Geschlechter vernichten kann ...)
Gitte war sechsundzwanzig, als sie mit ihrer Ausbildung fertig war und war knapp zwei Jahre mit John verheiratet, sie ist also ungefähr achtundzwanzig. Im Gegensatz zu ihrer Schwester ist sie robust, nüchtern. Sie hat sich hauptsächlich mit weiblichen Patienten beschäftigt, sowohl auf ihrem Spezialgebiet auch auch in der jetzigen Abteilung im Krankenhaus. Bücher wie ”Aufruhr oder Krankheit“, Laings Theorien, Phyllis Cheslers ”Frauen, das verrückte Geschlecht“, Gilmans ”Die gelbe Tapete“ über weibliche Schizophrenie als eine Reaktion auf die Frauenrolle haben sie sehr beschäftigt. Sie war eine der Gründerinnen der Beratungsstelle für ”Verrückte Frauen“ im Frauenzentrum, und sie besucht öfter die Frauen, die im Frauenhaus Rat und Hilfe suchen.
Ihre Schwester Kim ist ganz anders, sensibel und verletzlich. Es fällt ihr manchmal schwerer, mit ihrer täglichen Arbeit als Lehrerin zurechtzukommen, als Gitte mit ihrer vergleichsweise anstrengenderen Arbeit als Psychiaterin. Sie sind Zwillinge wie Else und Eva, und ihre Mutter Sara malt: eine der wenigen, die es geschafft haben, sowohl Mutter als auch Künstlerin zu sein.
Sara. Saras Geschichte ...“
Sie rieb sich die Augen.
Vielleicht waren Gitte und Kim so. Vielleicht auch nicht. Wer war sie überhaupt, daß sie das bestimmen konnte?!
Das Schreiben des Buches schien ihr plötzlich aus unendlichem Wählen-Müssen zu bestehen: sollte Kim auf der Insel sein, wenn das Buch anfing, sollte sie vielleicht doch ein bißchen jünger als die Schwester sein, sollte ihre Beziehung sehr naturalistisch geschildert werden, mit Fehlern und Mängeln, oder sollten die Konflikte in die Handlung um die Personen herum verwoben werden –
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